Buchkritik, Wachstum

Das richtige Maß entdecken

140521_miegel_hybrisMeinhard Miegel: Hybris. Die überforderte Gesellschaft, Berlin 2014, Propyläen Die westliche Gesellschaft hat eine kollektive Hybris erfasst. Die Industrienationen sind nicht wirklich bereit, die Ausbeutung unseres Planeten zu stoppen. Einmal mehr appelliert Meinhard Miegel deswegen an jeden einzelnen, sich mit weniger zu begnügen.

Wieder ein kritisches Buch über Wohlstand und Wachstum – und damit über die Forderung nach einem gesellschaftlichen Wandel, um die Finanz- und Wirtschaftskrise endgültig zu überwinden und die Fragen nach der Endlichkeit unserer Rohstoffe und des Wachstums zu beantworten. Wie langweilig! Oder vielleicht doch nicht?

Dass Miegels „Hybris“ nicht nur ein lesenswertes Werk, sondern auch ein angenehmer Wegweiser durch das Labyrinth nicht enden wollender gesellschaftlicher und ökonomischer Probleme geworden ist, verdankt das Buch seinem Autor. Miegel ist kein Moralist. Linke Kapitalismuskritik liegt ihm fern. Er kritisiert das Wirtschaftssystem, das die Menschen seiner Ansicht nach zu zwanghaftem Konsumieren verführt, ohne die herablassende Geste des Gutmenschen. Und: Nicht Hysterie motiviert ihn, sondern Hoffnung: „Die große Krise könnte sich eines hoffentlich nicht fernen Tages als glückliche Wendung erweisen – als grundlegender Paradigmenwechsel.“

Bis dahin ist es ein weiter Weg. Miegels Kritik hat die Unmäßigkeit westlicher Kulturen im Fokus. Aus ihr, erklärt der Autor, entwickeln sich die Krisen, die „Türme von Babylon“. Diese zeigt er beispielhaft an Skandalen wie dem Berliner Katastrophenbaustellen-Flughafen, der kostenexplodierenden Hamburger Elbphilharmonie oder den täglichen Staus, Verspätungen und Störungen im öffentlichen Bahn- und Verkehrsnetz. Alles soll schneller, effektiver und besser werden. Doch oft tritt nur das Gegenteil ein. Insofern gibt es für Miegel gar keine Krise, die singulär auftritt, sondern vielmehr einen allgemeinen Erschöpfungszustand, der sich aus der Maßlosigkeit unserer Gesellschaft nährt und uns mittlerweile überfordert: Maßlose Gier, maßlose Produktion und maßloser Konsum machen die Menschen blind für eine Entwicklung, die auf eine „finale Krise“ hinsteuert, von der manche Kritiker sagen, dass wir uns von ihr nicht mehr erholen werden.

Miegel sieht es nicht so pessimistisch. Er ist weitaus moderater. Die gegenwärtigen Probleme sind für ihn nicht Folge allein der Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern sie sind der „Krise der westlichen Kultur“ geschuldet. Auf rund 250 Seiten wirbt der Bonner Sozialwissenschaftler mit kluger Analyse und anschaulichen Charts für die „Kunst der Beschränkung“ als neuen Kompass für die Überwindung der kollektiven Hybris, die insbesondere die Industrienationen zum Dauerkonsum verführt hat. In verschiedenen Kapiteln wie Bildung, Sozialstaat, Arbeit oder Mobilität beschreibt er Schwachpunkte und mögliche Entwicklungen. Ein Beispiel: Der technische Fortschritt. So wie einst nicht über die Folgen der Kernkraft nachgedacht wurde, mahnt Miegel, dass die Menschen sich heute nicht wirklich über die Folgen der digitalen Revolution im Klaren seien. Die digitale Revolution stelle eine Form menschlicher Hybris dar. Sie bringe die sich über Jahrhunderte langsam weiterentwickelten zivilisatorischen Ideale in Gefahr. Auf dem Spiel stünde nichts „Geringeres als Menschenwürde, Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums, sein Anspruch auf eine respektierte und geschützte Privatsphäre“.

Miegel geht es um eine sinnvolle Einschränkung – um die Idee, das Vorhandene besser zu nutzen, statt es weiter vermehren zu wollen. Es geht um Genügsamkeit, um Suffizienz, über die bereits der britische Ökonom Robert Skidelsky mit seinem Sohn Edward den Bestseller „Wie viel ist genug?“ veröffentlichte. Die Menschen sollen „erkennen, dass weniger mehr sein kann“, sagt auch Miegel. Nötig sei deswegen ein Paradigmenwechsel. Dazu gebe es allerdings weder eine Montageanleitung noch die massenhafte Verschreibung von Medizin. Miegel setzt vor allem auf unsere individuellen Fähigkeiten: Der Autor fordert von jedem ein Höchstmaß an Einfühlvermögen, Phantasie, Improvisationsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft. Denn das Terrain, in dem sich Paradigmenwechsel ereigneten, sei unübersichtlich, jeder Tag bringe Unvorhergesehenes. „Deshalb lassen sie sich nicht durch raumgreifende Konzepte, sondern nur durch sensible Aktionen und Reaktionen von Millionen von Akteuren meistern“, meint Miegel. Um dies letztlich zu ermöglichen, sei es die Aufgabe des Staates, den Menschen nicht weiter Vorschriften zu machen, sondern ihnen den größtmöglichen Freiraum zu eröffnen.