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Europa am Scheideweg

Ob das politische Establishment den Schuss vor den Bug wohl versteht, den die nationalen Stimmbürger in den souveränen Mitgliedstaaten mit ihren Proteststimmen bei der Europawahl abgefeuert haben? Nach dem ersten Erschrecken deutet sich eher eine Uminterpretation des Wahlmenetekels bei Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen im Europäischen Parlament an: Wir brauchen mehr Europa, eine noch stärkere Vergemeinschaftung in vielen Lebensbereichen. Wir müssen jetzt zusammenrücken gegen die populistischen Europafeinde!

Dabei stünde dringend eine Reflexion über das europäische Projekt an. Die Eliten in den europäischen Institutionen, die meisten EU-Parlamentarier sowie der Europäische Gerichtshof interpretieren die EU zunehmend als eine Art europäischen Superstaat. Doch wir haben keine Vereinigten Staaten von Europa (und ich finde das auch langfristig nicht erstrebenswert!), sondern einen Staatenbund souveräner nationaler Mitgliedstaaten. Und nach meinem Eindruck teilt das souveräne Wahlvolk diese Einschätzung zumindest aus dem Bauch heraus.

Natürlich will auch das gemeine Volk, nicht nur die Wirtschaft, Freizügigkeit in Europa – für Menschen und Güter. Für neue Schlagbäume plädieren nicht einmal die schärfsten EU-Kritiker. Die gemeinsame Währung, ohne die eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten aber ganz gut klarkommt, wird akzeptiert, solange und soweit man nicht für eine unverantwortliche Schuldenpolitik anderer Euro-Länder in Haftung genommen wird. Weil die „No-Bail-Out“-Regel im Zuge der griechischen Staatspleite kassiert wurde, ist in Deutschland die scheinbar locker an der FDP vorbeiziehende AfD überhaupt erst entstanden.

Haftung und Eigenverantwortung sind Grundtugenden einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, wie sie in weiten Teilen der Europäischen Union praktiziert wird. Europa besteht kulturell und mental, geografisch und klimatisch aus einer Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Aus dieser Unterschiedlichkeit erwächst eine Wettbewerbsdynamik, die sich dann am besten entfaltet, wenn sie nicht durch eine europäische Regulierungswut erdrosselt wird. Einheit in der Vielfalt könnte eine europäische Losung sein. Praktiziert wird nur zu oft verordnete Gleichschaltung.

Im Vertrag von Lissabon wurde den europäischen Zentralisten das Subsidiaritätsgebot ins Stammbuch geschrieben. Damit gemeint war, dass Regelungen möglichst nah bei den Menschen, also in den Kommunen, den Regionen und in den Mitgliedsstaaten getroffen werden, nicht zentral von Brüssel oder Straßburg aus. Dezentral sollte sich die EU organisieren, nicht zu einem bürgerfernen und demokratisch nicht legitimierten Bürokratiemonster mutieren.

In der Zivilgesellschaft der Mitgliedstaaten muss jetzt eine Diskussion entfacht werden über die Aufgaben einer Europäischen Union der Bürger, nicht der Bürokraten. Auch über neue gemeinsame Aufgaben der EU auf so wichtigen Feldern wie der Außen- und Sicherheitspolitik, deren Manko gerade in der Ukraine-Krise so schlagartig deutlich wurde. Über demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger, die über notwendige Souveränitätsübertragungen an die EU auch in Volksabstimmungen ihr Urteil treffen müssen.

Und weil Gefahr im Verzug ist, sollten die nationalen Parlamente ein eigenständiges Klagerecht erhalten, mit dem sie die Regelungswut der „Berufseuropäer“ in den Institutionen der Union kontern können. Zuständig für solche Subsidiaritätsklagen sollte aber ein neu zu schaffender Kompetenzgerichtshof sein, dessen maximal fünf Richter von den Mitgliedstaaten berufen werden, nicht von den EU-Institutionen. Denn der bestehende Europäische Gerichtshof beförderte in der Vergangenheit den Kompetenz-Expansionismus, statt ihn zu bremsen.