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Der schöne Schein der ökonomischen Stärke

Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion – warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen, Hanser-Verlag, München 2014Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion – warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen, Hanser-Verlag, München 2014 Deutschland gilt als groß und stark. Als Meister der Krise. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Die Bundesrepublik wächst seit dem Jahr 2000 weniger als andere europäische Staaten. Zwei von drei Arbeitnehmern sind heute schlechter gestellt als vor 15 Jahren. Schuld ist Deutschlands Investitionsmangel. Er stellt die wirtschaftspolitische Achillesferse des Landes dar, meint Marcel Fratzscher in seinem neuen Buch. Mit einer Agenda für Europa will er zeigen, wie Deutschland seinen Wohlstand für kommende Generationen sichern könnte.

Dass Deutschland seit gut 14 Jahren weniger wächst als viele anderer seiner europäischen Nachbarstaaten, liegt für Marcel Fratzscher vor allem an der schwachen Produktivitätsentwicklung. Die geringen Investitionen, „die zu den niedrigsten aller Industrieländer zählen“, werden Deutschland runterreißen, ist sich Fratzscher sicher. Für Fatzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor an der Berliner Humboldt-Universität, befindet sich die Bundesrepublik schon jetzt auf einem absteigenden Pfad.

In seinem Buch „Die Deutschland-Illusion“ analysiert der Ökonom „drei Illusionen“. Die erste: Viele glauben, die wirtschaftspolitische Zukunft sei gesichert, weil die deutsche Wirtschaftspolitik grandios dasteht. Für Fratzscher ist diese Annahme deswegen ein Trugschluss, weil Deutschland seiner Meinung nach zu wenig investiert – vor allem in zivilgesellschaftliche Strukturen, die das Gemeinwohl fördern, aber auch in Bildung und in die Energiewende. Deutschland lebt heute allein von seiner Substanz, meint Fratzscher. Die zweite Illusion: „Deutschland braucht Europa nicht und seine wirtschaftliche Zukunft liegt außerhalb des Kontinents.“ Auch diese Annahme ist für Fratzscher ein großer Irrtum. Der Grund: Global ist Deutschland eine kleine Volkswirtschaft, langfristig werden die Europäer deswegen die wichtigsten Handelspartner bleiben. Die dritte Illusion: Die europäischen Nachbarn sind nur auf Deutschlands Geld aus. Fraztscher entlarvt solche Sätze als deutschen Komplex: „Wir Deutsche sehen uns gerne als Opfer Europas und ignorieren die vielen Vorteile, die Europa uns gibt.“

Eine europapolitische Agenda soll Wohlstand sichern

Allerdings gibt er durchaus zu, dass in allen drei Illusionen ein Fünkchen Wahrheit steckt. Dennoch ist Fratzscher überzeugt, dass Deutschland ohne Europa zukünftig nicht bestehen wird. Er schlägt daher eine europapolitische Agenda für die Bundesrepublik mit zehn Punkten vor. Das zählen 1. Deutschland als Konjunkturlokomotive für Europa zu stärken, 2. eine europäische Investitionsagenda aufzusetzen, um ein stabiles Investitionsklima in der EU zu schaffen, 3. Deutschlands Rolle als gefühltes Opfer Europas aufzugeben und sich selbstkritisch auch gegenüber EU-Entscheidungen zu zeigen, 4. die Bankenunion zu vollenden, 5. die Staatsschuldenprobleme einiger Krisenländer energisch zu bekämpfen, 6. die Basis für eine Fiskalunion zu legen, 7. eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen, 8. einen Eurovertrag in Anlehnung an den Maastricht-Vertrag aufzusetzen, der nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch europapolitisch gewollt ist, 9. eine europäische Wirtschaftsregierung zu installieren und 10. die Bürger für die europäische Integration endlich überzeugend zu gewinnen, um für Europa eine demokratische Legitimierung zu schaffen

Klatsche nach links und rechts

Fratzscher hat sich in den vergangenen zwei Jahren zu einem der Shooting-Stars in der deutschen Ökonomie-Szene entwickelt. Das passt nicht jedem in der Branche. Kritiker werfen ihm vor, sich mit seinem Buch, seiner Agenda und überhaupt seiner ganz Medienpräsenz als „Chefökonom des Wirtschaftsministers“ (FAS vom 14. September 2014) noch besser in Position bringen zu wollen. Die gesuchte Nähe zur Politik mag tatsächlich manche in der distanzvollendeten deutschen Ökonomiebewegung befremden. Noch heute verdreht der ein oder andere die Augen, wenn er an Bert Rürups Einfluss auf Kanzler Gerhard Schröder denkt. Doch Fratzscher, der 20 Jahre im Ausland lebte, verweist auf Amerika, „wo sich die Professoren viel aktiver in die wirtschaftspolitische Beratung einbringen als in Deutschland“. „Davon sollten wir lernen“, sagt er. Sein Buch ist wie er selbst – kritisch gegen alles, was nicht einleuchtend ist. Und das macht es erfrischend und lesenswert. So sieht Fratzscher beispielsweise im Mindestlohn keineswegs das von vielen erwartete „Allheilmittel“ für mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Die geplante Mietpreisbremse schade eher, als dass sie nütze, meint Fratzscher. Frauenquote, Kita-Ausbau und Energiewende seien jedoch zu unterstützen.

Fazit: Wer einen kompetenten und in keiner Weise anbiedernden Blick auf die wirtschaftspolitischen Herausforderungen Deutschlands haben will, hat mit der Lektüre dieses Buches nichts falsch gemacht.