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Wettbewerb statt Ziele: Warum die EU ihre selbstgesetzten Vorgaben verfehlt

Die Europäische Union hat bereits mehrfach versucht, Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum über politische Programme ("Lissabon Strategie", "Europa 2020") zu erhöhen. Der Ökonom Oliver Treidler hat in seiner Dissertation analysiert, inwiefern die EU die selbstgesetzten Vorgaben erreicht. Ein Ergebnis: Die Ziele werden regelmäßig spektakulär verfehlt.

From the Lisbon Strategy to Europe 2020 and beyondSie zahlen, sie zahlen nicht, sie zahlen, nur wie lange noch? Wann immer in den letzten Wochen Finanz- und Wirtschaftsthemen Gegenstand von Medienberichten sind, werden die Fragen nach der griechischen Verschuldung und Zahlungsfähigkeit sowie der richtigen Politik gegenüber Griechenland zumindest erwähnt. Ein Großteil der Berichterstattung befasst sich ohnehin mit nichts anderem. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass die europäische Wirtschaft und der Euro deckungsgleich sind und europäische Wirtschaftspolitik sich dementsprechend in einer Diskussion über die Modalitäten des Grexit erschöpft. Dem ist natürlich nicht so. Deshalb lohnt es sich gerade in einer Situation, in der die Tagespolitik mit zweifelsohne wichtigen Fragen alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, einen Schritt zurückzutreten und die langfristigen Ziele der europäischen Wirtschaftspolitik zu betrachten.

Eine sorgfältige Analyse der entsprechenden Konzepte und Maßnahmen bietet nicht nur Stoff für Sonntagsreden, sondern kann auch eine Entscheidungs- und Orientierungshilfe sein in komplexen tagespolitischen Fragen. Genau dies leistet das Buch „From the Lisbon Strategy to Europe 2020 and beyond. Rethinking the Rationale for a Common European Economic Policy“ von Oliver Treidler. Treidler analysiert darin die maßgeblichen wirtschaftspolitischen Programme, die Lissabon Strategie und Europa 2020, sowie Bemühungen zu deren Umsetzung. Als Maßstab dient ihm dabei das in der Lissabon Strategie selbst formulierte Ziel, die wettbewerbsfähigste Wirtschaft der Welt zu werden.

Allerdings hat die EU dieses selbstgesetzte Ziel spektakulär verfehlt. Darüber kann auch der Euphemismus der Europäischen Kommission, die das Ergebnis als gemischt bezeichnet, nicht hinwegtäuschen. Denn die EU hat es nicht nur nicht geschafft, den großen Konkurrenten USA zu überholen, der Rückstand der EU in puncto Wettbewerbsfähigkeit ist sogar gewachsen. Auffällig ist auch, dass sich jene Länder, die in den Evaluationen der Lissabon Strategie unterdurchschnittlich abschneiden, als besonders krisenanfällig gezeigt haben. Das verdeutlicht, dass die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit kein artifizielles Kräftemessen ist, sondern im ureigensten Interesse aller Beteiligten sein sollte.

Insofern ist der Fehlschlag der europäischen Wirtschaftspolitik überraschend. Treidler diskutiert viele Faktoren, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben könnten, darunter etwa das notorische Überladen von Strategien oder Programmen, das einer Fokussierung regelmäßig im Wege steht.

Er stellt aber auch die Frage, ob angesichts der Diversität der Mitgliedsländer möglicherweise Teilziele falsch gewählt sind. Insbesondere dann, wenn sowohl der Geist der Verträge als auch die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer die entsprechenden Kompetenzen auf nationalstaatlicher Ebene oder darunter verankern wollen, dürfte der Systemwettbewerb die sehr viel erfolgversprechendere Strategie sein.

Diese Überlegung ist auch der Ausgangspunkt für Treidlers Ausführungen zu einer konzentrierten und tragfähigen europäischen Wirtschaftspolitik. Denn nur solche Punkte, in denen ein breiter Konsens besteht, bieten Aussicht auf eine erfolgreiche Umsetzung. Eine „Zwangsharmonisierung“ hingegen birgt die große Gefahr, einen gegenteiligen Effekt zu erzielen, statt Kooperation und Einigkeit Zwietracht und Dissens zu fördern.

Die materiellen wie immateriellen Vorteile der europäischen Integration, die Treidler hervorzuheben nicht müde wird, drohen dann verloren zu gehen. Das unterstreicht die Bedeutung einer wirtschaftspolitischen Strategie, die beiden im europäischen Motto „in Vielfalt geeint“ angesprochenen Motiven, der Einigung und der Vielfalt, gerecht wird.

Eine solche Strategie zu skizzieren, ist Gegenstand des letzten Abschnitts des Buches. Der Verfasser bezieht sich dabei explizit auf liberale Denker und die österreichische Schule der Nationalökonomie. Das mag Leserinnen und Leser, die mit diesen Ansätzen sympathisieren, freuen. Doch zugleich macht dieses Vorgehen die Argumentation angreifbar. Umso wichtiger ist es herauszustellen, dass die zentralen Befunde, Argumente und Schlussfolgerungen auch dann Bestand haben, wenn man die liberale Prämisse des Verfassers nicht teilt.

Den Kern einer europäischen Wirtschaftsstrategie bilden für Treidler vier Gebiete:

  • makroökonomische Stabilität,
  • Beschäftigung,
  • Binnenmarkt sowie
  • Wissen und Forschung.

Um nicht Gefahr zu laufen, zu viel zu wollen, sich zu verzetteln und letztlich nichts oder wenig zu erreichen, sollte diese Agenda nicht erweitert werden. Hinsichtlich der Umsetzung betont er, dass eine Erweiterung von EU-Kompetenzen nicht erforderlich, sondern im Gegenteil vermutlich eher kontraproduktiv ist. Die wichtigsten Implementationsinstanzen für eine europäische Wirtschaftsstrategie sind die Nationalstaaten bzw. deren Untergliederungen.

Das ist aus zwei Gründen ausgesprochen vorteilhaft: Erstens ist es auf diese Weise viel einfacher, regionalen oder nationalen Bedürfnissen und Präferenzen gerecht zu werden. Und zweitens ähnelt eine ungelenkte, evolutionäre Entwicklung von Lösungen und Politiken einem großen Versuch, beim dem parallel viele Möglichkeiten getestet werden, und der permanente Korrekturen und Verbesserungen erlaubt.

Die Möglichkeit des Grexit und die Zukunft des Euro sind nicht Gegenstand von Treidlers Studie. Doch die darin angestellten grundsätzlichen Überlegungen sind ein guter Prüfstein für mehr oder weniger tragfähige Argumente in einer aufgeregten Debatte.

Oliver Treidler: From the Lisbon Strategy to Europe 2020 and beyond. Rethinking the Rationale for a Common European Economic Policy, Hamburg 2014, 454 S., 129,80 Euro.

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