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Bessere Zahlen für eine skeptische Wissenschaft: Was der Nobelpreis für die Ökonomik bedeutet

Was sind die Quellen des Wohlstands? Das ist eine der Fragen, die den Ökonomen Angus Deaton umtreiben. Seine Antworten sucht er regelmäßig in der Empirie. Sein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass die Qualität der Ergebnisse entscheidend von der Qualität der erhobenen Daten abhängt, hat ihm den diesjährigen den Nobelpreis beschert. Dass die Wahl auf den Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University fiel, lässt sich aber auch als Kritik an einer Wissenschaft lesen, die bisweilen aus dem Auge verliert, dass es bei der Ökonomik um menschliches Zusammenleben geht und sie eben keine Naturwissenschaft ist.

Wirtschafts-Nobelpreisträger sollten einen „Eid der Bescheidenheit“ ablegen. Die Auszeichnung verleihe „einem Einzelnen eine solche Autorität, wie sie in der Wirtschaftswissenschaft niemand besitzen sollte“, warnte Friedrich August von Hayek, als er 1974 selber den erst wenige Jahre zuvor von der Schwedischen Reichsbank gestifteten Preis entgegennehmen durfte.

Im Fall von Angus Deaton, dem diesjährigen Preisträger, braucht man eine drohende Hybris nicht zu befürchten. Der in Princeton lehrende gebürtige Schotte, der für seine „Analyse von Konsum, Armut und Wohlfahrt“ ausgezeichnet worden ist, gilt zwar durchaus als ein Mann mit einer Mission: „Wir, die wir das Glück hatten, in den richtigen Ländern geboren zu werden, haben eine moralische Pflicht, Armut und Krankheit in der Welt zu verringern.“ Aber er ist zugleich ein notorischer Skeptiker, was sich nicht nur in seiner harten Kritik an der gut gemeinten staatlichen Entwicklungspolitik zeigt, die allzu oft nur die etablierten Eliten begünstigt und die wirklich Hunger und Not leidenden Menschen verfehlt.

Deatons Skepsis ist vielmehr eine tief verankerte, bescheidene Haltung, mit der er das Poppersche Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts durch Falsifikation in seiner eigenen Arbeit verwirklicht. Gerade auf seiner Skepsis und seinem Zweifel beruht Deatons Erfolg als Forscher. Auf der Suche nach einer Erklärung für Armut und Krankheit in großen Teilen der Welt – sein besonderes Interesse gilt Indien – hat er überall dort angesetzt, wo er Widersprüche zwischen Theorie und Empirie sah, oft auch Ungereimtheiten innerhalb der Evidenz selbst. Wenn die Empirie die Theorie nicht bestätigt, gibt es zwei Richtungen, in denen das Problem zu suchen ist: Entweder die Theorie lässt Wichtiges aus, oder aber an der Empirie ist etwas faul aufgrund ungenügender Methoden oder Daten.

Schon seit den vierziger Jahren, in denen die Ökonomik unter dem wesentlichen Einfluss großer amerikanischer Forschungseinrichtungen wie der Cowles Commission und RAND zu einer formalen und empirischen Wissenschaft wurde, schwelt die Debatte darüber, wie sich Theorie und Empirie zueinander verhalten (sollen). Tjalling Koopmanns, Nobelpreisträger von 1975, hatte 1947 in einem berühmten Aufsatz vor einem ziellosen „Measurement without theory“ gewarnt; Zvi Griliches drehte den Spieß ein halbes Jahrhundert später um. Der 1945 geborene Deaton sieht Theorie und Empirie schlicht als Einheit. Seine Arbeit gilt dem besseren theoretischen Fortschritt dank besserer Messung.

Dabei treibt ihn die Sorge um, dass sich allzu viele Ökonomen für den – oft dürftigen – Aussagegehalt ihres Datenmaterials nicht hinreichend interessierten und deshalb die theoretischen Inspirationen verpassten, die eine genauere Auseinandersetzung mit den Zahlen geben könnte. Dabei weiß schon der Volksmund, dass sich mit Statistiken Schindluder treiben lässt; Datensätze können unvollständig sein, Angaben falsch und Umfragen nicht repräsentativ. „Vieles von dem, was wir über die Welt zu wissen glauben, hängt von Daten ab, die möglicherweise gar nicht bedeuten, was wir glauben, oder denen andere Daten widersprechen, denen wir weniger Gewicht geben, oft ohne irgend einen Grund außer der Gewohnheit“, schreibt Deaton in einem lesenswerten Essay über seinen intellektuellen Werdegang.

Hayek rieb sich seit den zwanziger Jahren an der Makroökonomik, die mit großen Aggregaten wie der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis, den Investitionen oder dem Volkseinkommen arbeitete, obwohl sich alles, was zur Erklärung von Anpassungsprozessen notwendig war, innerhalb dieser Aggregate abspielte, beispielsweise zinsbedingte Verschiebungen in der Produktionsstruktur von Konsumgütern zu Investitionsgütern und umgekehrt. Um makroökonomische Erscheinungen zu verstehen, braucht man letztlich eine Theorie des individuellen Verhaltens, eine „Mikrofundierung“.

Diese Erkenntnis ist in der modernen Makroökonomik zwar durchaus längst angekommen, doch statt tatsächlich auf die Ebene der Individuen herabzusteigen, nehmen noch immer viele Forscher der Einfachheit halber zum „repräsentativen Individuum“ und dessen rechnerischem Pro-Kopf-Einkommen Zuflucht.

Wenn man dergestalt nur „das als wichtig behandelt, was gerade der Messung zugänglich ist“, wie Hayek 1974 in Stockholm formulierte, kann das allerdings in die Irre führen, und niemand hat dies gründlicher vor Augen als Angus Deaton.

In der Tat sagt das Pro-Kopf-Einkommen gerade in agrarisch geprägten Entwicklungsländern wenig über den tatsächlichen Wohlstand aus, wenn Familien keine regelmäßigen Einkünfte haben und selber verzehren, was sie anbauen – das schlägt sich in keiner gesamtwirtschaftlichen Statistik nieder. Man muss also ihren individuellen Verbrauch messen und diesen, wenn man etwas über Entwicklung erfahren will, auch über die Zeit beobachten.

In der Praxis ist das alles andere als einfach. Deaton, der einst in Cambridge zunächst ziemlich lustlos Mathematik studiert hatte, bevor er die Ökonomik für sich entdeckte, hat dazu eine Fülle von nützlichen Ansätzen aufgebaut und die Entwicklung weiterer Methoden angestoßen, die heute Mainstream sind.

Gerade weil diese modernen Methoden so gut sind, droht freilich durch die Hintertür wieder das Problem einer Entkopplung von Theorie und Empirie. Unter Ökonometrikern macht sich Deaton immer wieder mit seinen Warnungen vor den heute üblichen „kontrolliert randomisierten“ und „natürlichen“ Experimenten unbeliebt – das sind ökonometrische Methoden, die auf einer cleveren Zerlegung von Datensätzen beruhen und nicht nur Korrelationen zwischen zwei Variablen (wie beispielsweise Einkommen und Gesundheit) feststellen sollen, sondern sogar Kausalitäten (hier ein Überblick über diese Ansätze). Deaton fürchtet, dass diese empirischen Methoden nicht der Theorie dienen, sondern sie zunehmend verdrängen und ersetzen. Das wäre ein Rückfall in den Empirismus, wie er vor mehr als hundert Jahren in der Historischen Schule üblich war.

Angus Deaton ist zwar ein Mensch der Zahlen, der seine Anregungen aus dem „Herumspielen“ mit Daten bezieht und deshalb auch die mühsame technische Arbeit am Rechner nicht an Assistenten delegiert. Er versteht aber auch vorzüglich zu schreiben. Sein 2013 veröffentlichtes, nicht nur für Ökonomen gut verständliches Buch „The Great Escape“ hat er der einen großen Frage gewidmet, wie sie Adam Smith 1776 mit seinem zweiten großen Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“  auf den Punkt gebracht hat: Was ist die eigentliche Quelle des Wohlstands? Deaton bietet einen Überblick über die große wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Menschheit, die Entwicklung der vergangenen 250 Jahre, also grob seit Adam Smith, der Zeit der Aufklärung und der Abwendung vom Merkantilismus. „Das Leben ist heute besser denn je“, schreibt er, „mehr Menschen sind relativ reich, weniger Menschen leben in schlimmer Armut. Wir leben länger und Eltern müssen nicht mehr hinnehmen, dass jedes vierte Kind stirbt.“

Nach Smith ist es die Arbeitsteilung, die den Fortschritt bringt; Deirdre McCloskey hat 2007 in ihrem Buch „Bourgeois Virtues“ ergänzt, dass es dazu eines Kulturwandels bedurfte, der Herausbildung ethischer Normen, die den Handel begünstigten. Deaton arbeitet einen weiteren Aspekt heraus: das wachsende medizinische Wissen, dank dessen sich die durchschnittliche Lebenserwartung im vergangenen Jahrhundert verdoppelt habe.

Und noch etwas habe sich als wichtig erwiesen: ein stabiler Staat mit zuverlässig funktionierenden Institutionen. „Dass die staatlichen Leistungen und der Schutz fehlen, den die Menschen in reichen Ländern für selbstverständlich halten, ist einer der Hauptgründe von Armut und Not in der Welt“, hält er allen entgegen, die den modernen demokratisch legitimierten Staat nicht auch als zivilisatorische Errungenschaft, sondern ausschließlich als ein Übel betrachten.

Deatons Blick aus der wirtschaftshistorischen Vogelperspektive erleichtert es ihm, eine klügere, zurückhaltendere, und, wie Hayek sagen würde, ganz und gar nicht konstruktivistische Konsequenz zur Entwicklungspolitik zu ziehen: Entwicklung habe nur dann eine Chance, nachhaltig zu sein, wenn sie spontan in Gang komme und sich im Rahmen der jeweiligen Kultur entfalten könne. Deshalb sei jeglicher Aktionismus der reichen Länder der Welt verfehlt; politische Bescheidenheit sei geboten. „Wir dürfen nur eines nicht tun“, warnt der Nobelpreisträger des Jahres 2015: „den armen Ländern den Weg verstellen, den wir schon zurückgelegt haben.“ Es gilt mithin vor allem den noch immer verbreiteten, mehr in nicht-tarifären Handelshemmnissen als in Zöllen versteckten Protektionismus aufzugeben. Und gerade das, wie alle Freihandelsverhandlungen belegen, scheint unendlich schwer.

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