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Reform der Alterssicherung – Populäre Thesen, empirische Befunde, normative Ableitungen

Der Vorschlag, mit einem höheren Rentenniveau Armutsrisiken vorbeugen zu können, führt in die Irre. Zum einen profitieren davon auch Ruheständler mit einer auskömmlichen Rente. Zum anderen werden die jüngeren Beitragszahler über Gebühr belastet. Steigt das Sicherungsniveau vor Steuern zum Beispiel auf 50 Prozent, müssen im Jahr 2029 zusätzliche Ausgaben in Höhe von 52 Milliarden Euro finanziert werden. Dann droht der Beitragssatz die 25-Prozent-Marke zu reißen.

160519_Mehrausgaben_RentennMit dem Absinken des Sicherungsniveaus in der Gesetzlichen Rentenversicherung wächst die Sorge vor einer massenhaften Armutsgefährdung im Alter. Dabei führt bereits der Rückschluss von der Verteilung der gesetzlichen Renten auf eine mögliche Armutsgefährdung im Alter in die Irre. Denn die Messung von Einkommensarmut oder Bedürftigkeit erfordert die Berücksichtigung weiterer Einkommensquellen und des Haushaltskontextes. So lagen Ende 2014 rund die Hälfte aller gesetzlichen Renten im Bereich der Grundsicherungsschwelle oder darunter. Aber nur 3 Prozent der Personen im Alter von 65 und mehr Jahren bezogen Leistungen der Grundsicherung im Alter. Die Erklärung für dieses Auseinanderklaffen ist denkbar einfach: Im Haushalt kommen oftmals mehrere Renten zusammen, betriebliche und private Versorgungsansprüche bessern das Budget auf und nicht selten steht ein kleines, manchmal auch ein größeres Vermögen zur Verfügung.

Aber auch die Berechnung des Sicherungsniveaus vor Steuern wirft Fragen auf. Nach dem Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung sinkt das Niveau von derzeit 47,5 Prozent auf 44,6 Prozent im Jahr 2029. Allerdings beruht die Berechnung auf der Fiktion einer Standardrentnerbiografie mit 45 Beitragsjahren und jeweils durchschnittlichen Verdiensten. Dieser Modellfall erlangt jedoch normative Kraft, sobald das Sicherungsniveau zur politischen Steuerungsgröße wird. Aber muss die Berechnung dann nicht auch den mit der Anhebung der Regelaltersgrenze intendierten Verhaltensänderungen Rechnung tragen? Jedenfalls kann die ursprünglich prognostizierte Versorgungslücke bereits innerhalb des gesetzlichen Systems zu zwei Dritteln geschlossen werden, wenn man für den Standardrentnerfall im Jahr 2029 eine entsprechend um zwei Jahre verlängerte Beitragszeit modelliert.

Die Kehrseite der Medaille: Weisen künftige Rentnerkohorten tatsächlich längere Erwerbsbiografien und eine höhere Erwerbsbeteiligung auf, werden künftige Beitragszahler in der umlagefinanzierten Rentenversicherung über die bisherigen Erwartungen hinaus belastet. Finanzielle Stabilität kann dann nur über ein weiteres Absinken des Sicherungsniveaus gewahrt werden und/oder über einen Anstieg des Beitragssatzes über die gesetzliche Obergrenze hinaus und/oder eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze.

Dennoch wird von einigen Stimmen gefordert, über ein höheres oder zumindest gleichbleibendes Versorgungsniveau Armutsprävention zu betreiben. Ein Irrweg: Bei einem konstanten Sicherungsniveau vor Steuern von 47,5 Prozent übertreffen die jährlichen Ausgaben die bislang von der Bundesregierung unterstellte Entwicklung im Jahr 2029 um 28 Milliarden Euro. Bei einem höheren Sicherungsniveau von 50 Prozent sind dann sogar 52 Milliarden Euro mehr zu schultern als ursprünglich erwartet. Die gesetzliche Beitragssatz-Obergrenze von 20 Prozent wird in diesem Szenario bereits bis 2020 ausgeschöpft. Die bis Ende des nächsten Jahrzehnts gültige Grenze von 22 Prozent würde voraussichtlich ab dem Jahr 2024 übertroffen, bis 2030 droht sogar ein Beitragssatz von 25 Prozent.

Dabei provoziert eine allgemeine Anhebung des Sicherungsniveaus unerwünschte Mitnahmeeffekte, weil auch Rentner mit höheren Ansprüchen profitieren. Aber nicht nur die mangelnde Treffsicherheit kostet. Ein solches Instrument könnte nicht einmal zuverlässig vor Altersarmut schützen, zum Beispiel wenn die Rente auch bei einem höheren Sicherungsniveau unter dem Grundsicherungsniveau bleibt und keine weiteren Einkommen im Haushalt vorliegen.

Diese Einwände gelten im Übrigen auch für die Varianten einer solidarischen Lebensleistungsrente, mit der die gesetzliche Versorgung für Geringverdiener aufgebessert werden soll. Auch hier greift der Einwand, dass die gesetzliche Rente kein hinreichendes Kriterium für Unterstützungsbedarf ist, weil der Haushaltskontext für das Armutsrisiko ausschlaggebend ist. Es drohen Mitnahmeeffekte, weil die Gesetzliche Rentenversicherung nicht zu unterscheiden vermag, ob eine niedrige gesetzliche Rente auf eine gering entlohnte Vollzeit- oder eine (freiwillige) Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen ist. Werden diese Effekte aber kontrolliert – zum Beispiel über eine Berücksichtigung von Partnereinkommen und/oder anspruchsvolle Zugangsvoraussetzungen –, dann bietet das Konzept kaum noch Vorteile gegenüber dem Status quo.

Die Berechnungen dieses Textes stammen aus der Studie “Reform der Alterssicherung – Populäre Thesen, empirische Befunde und normative Ableitungen” des IW Köln im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).

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