Buchkritik, Ordnungspolitik

Hört her, Ihr Halbmarathonläufer!

Recht und Justiz geben oft genug Anlass zur Empörung. Manchmal zu Recht. Manchmal zu Unrecht. Vielen Bürgern erscheint die Strafe für den Mörder zu klein und für den Automatenknacker zu groß. Thomas Fischer will für mehr Verständnis im Dschungel der Rechtsauslegung werben. Das gelingt. Und doch gehören seine Einlassungen zum deutschen Strafrecht mit zu den gelungensten Provokationen seit Kurt Tucholsky. Thomas Fischer: Im Recht – Einlassungen von Deutschlands bekanntestem Strafrichter, Droemer-Verlag, Berlin 2016

Thomas Fischer - Im RechtZunächst die Kurzversion: Dieses Buch ist ein Gewinn! Informationsreich, aktuell, amüsant, frech, prosaisch, sachlich, kompetent und ziemlich provokant. Wer das Buch liest und sich weder amüsiert noch aufregt, muss vorher schon Schlaftabletten genommen haben. Insofern gibt es nur ein Urteil über dieses Richterbuch: Lesen!

Und jetzt die lange Version: Mit seiner Zeit-Online-Kolumne ist Thomas Fischer in der Öffentlichkeit zu einer Art Ober-Kolumnist über Recht und Unrecht aufgestiegen – ohne jemals moralisch zu urteilen. Im wahren Berufsleben sitzt er am Bundesgerichtshof in Karlsruhe dem 2. Strafsenat vor. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch gilt als die Bibel im Strafrecht – ein zweieinhalbtausend kleinbedruckte Seiten umfassendes „Meisterwerk an Klarheit und höchster Verdichtung“ – wie die FAZ einst jubilierend schrieb. In seinem nun erschienenen Buch „Im Recht – Einlassungen von Deutschlands bekanntestem Strafrichter“ zeigt Fischer erneut sehr eindrucksvoll, wo das deutsche Recht an seine Grenzen stößt.

Ob Sterbehilfe, Sexualstrafrecht, Nazi-Verbrechen, Blasphemie, Asylpolitik oder Raub und Mord – stets versucht Fischer die Wirklichkeit des Rechts als Teil gesellschaftlicher Kommunikation und politischen Verhaltens darzustellen – und zwar „nicht als Volkshochschulkurs“, wie er meint, sondern in essayistischer und stets Pro und Contra abwägender Darstellung. Was sollen wir mit den Flüchtlingen und Rückkehrern machen? Wo finden sie Sicherheit – wie finden wir Sicherheit? Für Fischer geht es in diesen Fragen weniger um Angst und Bedrohung, als vielmehr um Verteilungsgerechtigkeit, um  Arm und Reich, um Bildung und demokratische Entwicklungen.

Der Richter und der Henker

Oft ist Fischer im Recht. Aber deswegen hat er noch lange nicht immer Recht – und er will es auch nicht haben. Denn die die Nüchternheit der Paragrafenlogik liegt ihm genauso gut wie die Provokation. So ist Richter Fischer auch ein Mann, der gerne die allgemeine Meinung erhängt. Ein Beispiel: Die islamistischen Terroristen sind für ihn zweifellos verabscheuungswürdige Mörder. Sie aber als „feige“ zu bezeichnen, hält er für falsch. „Feige ist vielleicht jemand, der eine satellitengelenkte Bombe in eine Hochzeit steuert und dabei in Ramstein sitzt und einen Dreifach-Burger mit den Fingern frisst“, schreibt er. Wenn wir die Terroristen verstehen und sie vernichten wollen, müssen wir – so Fischer – erst einmal ihren Mut anerkennen. So richtet er sich provokant gen Westen, wenn er sagt: „Träumt Euch, Ihr Steuerberater und Wirtschaftsstrategen, Ihr Halbmarathonläufer und Porsche-Besteller, Vertriebsberater und Servicekräfte, einen einzigen Tag lang hinein in die Unendlichkeit eines Lebens als Dreck. Und sagt mir dann, was mutig ist.“

Ein Provokateur im Auftrag der Aufklärung

So sehr er die Schärfe als Mittel des Denkanstoßes einsetzt, so sehr plädiert Fischer gleichzeitig für Contenance. Die „Kraft der Besonnenheit und der Aufklärung“ sind für ihn stärker als die der „Magie, der Dumpfheit und  Beschränktheit“. So bemüht er sich gerade in Strafrechtfragen, in den der schmale Grat zwischen Zufall und Schuld nur schwierig zu meistern ist, die Diskrepanzen mit viel Sachkenntnis zu erklären. Er hat Verständnis für die wachsende Kritik der Menschen am Rechtssystem: Die Menschen zweifeln „manchmal aus gutem Grund, manchmal aus Frust, manchmal aus Rechthaberei“, meint Fischer. Die Welt sei aber eben voller überraschender Unglücksfälle. Fischer: „Manche nennen wir Zufall, manche Verbrechen. Wo ist der Unterschied?“

Dass ein amtierender Bundesrichter öffentlich über die Bedeutung und die praktische Verwirklichung des Rechts so ehrlich und ungeschützt schreibt, mag merkwürdig vorkommen. Macht sich ein Richter damit nicht angreifbar? Tritt er sein Amt dadurch nicht mit Füßen? „Natürlich nicht“, meint Fischer. Solange er sachlich bleibe, gebe es keine Bedenken. Freilich, Selbstkritik kann niemals schaden: „Die Mitglieder der Justiz sind keine der Kritik enthobene Elite“, meint Fischer. Und wer wäre tatsächlich kompetenter als ein Bundesrichter, um über deutsche Gesetze zu sprechen?

Fazit

Seitdem es Menschen gibt, werden Menschen von Menschen bestraft – früher eher der göttlichen Ordnung wegen, heute aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit. Dieses Buch ist kein Empörungsbuch (Fischer: „Ich bin gar nicht empört: weder über den Zustand Deutschlands noch den des Lesers oder des Universums.“). Und es ist auch kein Besserwisser- und Recht-Haber-Plädoyer für das ein oder andere neue Strafgesetz. Vielmehr ist es eine Art Gedankenordner. Und es zeigt vor allem: Das Strafrecht ist ein ziemlich aufregender und steter Prozess der Kommunikation.

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