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Experimentelle Ökonomik: Warum Reinhard Seltens Forschung auch gefährlich ist

Der Mensch, das erforschte Wesen: Reinhard Seltens Weg führte von der Spieltheorie zur experimentellen Ökonomik. Ein Projekt, das zum Missbrauch durch die Politik einlädt.

Wen die Neugierde im Labyrinth der Ökonomik immer weiter vorantreibt, der landet früher oder später in einem Raum mit vielen verschlossenen Türen. Es geht nicht mehr weiter. Wie Alice im Wunderland hat er im Kaninchenbau, in den er da gefallen ist, damit zu kämpfen, dass eins nicht zum anderen passt: Mal fehlt der Schlüssel, mal ist er zu groß, mal zu klein; mal ist das Schlüsselloch zu hoch, als dass es sich erreichen ließe, mal der Türrahmen zu eng, als dass man sich hindurchquetschen könnte. Die Tür, zu der nun die immer neue Fragen stellenden Ökonomen den Schlüssel gefunden zu haben glauben, steht für die zentrale Rationalitätsannahme. Natürlich geht kaum jemand davon aus, dass auch im wirkliche Leben alle Menschen homines oeconomici sind und zuverlässig rational entscheiden, also unter exakter Abwägung von Nutzen und Kosten ihres Handelns, fehlerfrei, zeitkonsistent und unbeeinflusst vom sonstigen Umfeld. Aber wie entscheiden sie dann? Und was folgt daraus?

Hinter die verschlossene Tür der Rationalitätsannahme zu gelangen und einen Blick in die Welt dahinter zu werfen, ist ungeheuer verlockend. Ganz wie das neugierige Mädchen Alice in der Erzählung von Lewis Carroll können viele wissbegierige Ökonomen dem Sog der Frage, wie Menschen wirklich entscheiden, nicht widerstehen. Auch Reinhard Selten, der kürzlich verstorbene Bonner Pionier der Spieltheorie und der experimentellen Wirtschaftsforschung, war leidenschaftlich von ihr gepackt. Der 1930 in Breslau geborene und in Frankfurt/Main promovierte Mathematiker unternahm, was er konnte, um die Tür der für die Modellbildung nur allzu praktischen Rationalitätsannahme aufzusperren. Sein Projekt war es, dieses Postulat nach einem experimentellen Blick auf die Realität dahinter durch eine bessere formale Beschreibung des menschlichen Entscheidens zu ersetzen, unter Berücksichtigung von Motivation, kognitiven Fähigkeiten und Prozessen der Informationsverarbeitung. Er hatte sich wohl mit umso größeren Elan dieser Aufgabe gewidmet, als seine eigenen spieltheoretischen Arbeiten, für die er 1994 gemeinsam mit John Harsanyi und John Nash den Nobel-Gedächtnispreis erhielt, noch ganz auf der herkömmlichen Annahme fußten.

In Seltens spieltheoretischen Arbeiten, die seinen akademischen Ruf begründeten, ging es um die Ergebnisse strategischer Interaktion ohne feste durchsetzbare Vereinbarungen („nicht-kooperative Spiele“), zu erleben nicht nur beispielsweise zwischen verfeindeten staatlichen Mächten, sondern auch im Verhalten von Oligopolisten, die einander einen Markt streitig machen. Das Bündel der optimalen Strategien in einem solchen „Spiel“ heißt „Nash-Gleichgewicht“. Dieses Konzept hat Selten für einen dynamischen Kontext nutzbar gemacht, in dem er mehrere „Spielzüge“ und folglich „Spielstufen“ berücksichtigt hat, auf denen unterschiedlich viel Information verfügbar ist. Diese Unterteilung macht es möglich, leere Drohungen in der Analyse eines strategischen Interaktionsverhältnisses als irrelevant auszusortieren – eine wesentliche Voraussetzung für die annahmegemäße Rationalität. Das Bündel optimaler Strategien der einzelnen Stufe beschreibt jeweils ein „teilspielperfektes Gleichgewicht“; dieses lässt sich sogar so formulieren, dass es eine „Trembling hand“ aushält, dass also kleine Fehler der Beteiligten das Gleichgewicht nicht gleich zerstören. Für die spieltheoretische Forschung bedeuteten diese Konzepte einen Quantensprung.

Später widmete sich Selten dann im Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung (BonnEconLab), das er seit 1984 an der Universität Bonn aufgebaut hatte, sowie als Leiter der Arbeitsstelle „Rationalität im Lichte der experimentellen Wirtschaftsforschung“ der Erforschung der eingeschränkten Rationalität („bounded rationality“) und ihrer Folgen. Als besonders populär in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit erwies sich dabei die Frage, wann und warum Fairness regelmäßig über jenes Maß hinausgeht, das ein rational verfolgtes Eigeninteresse gebietet. Inzwischen hat eine ganze Phalanx von Ökonomen Testpersonen in nachgestellten kontrollierten Entscheidungssituationen interagieren lassen – nicht nur im Computerlabor, sondern sogar unter dem neugierigen Auge des Computertomographen der Neurologen. Für junge Forscher ist das ein ergiebiges Feld, um möglichst viel zu publizieren. Die Welt hinter der Tür der Rationalitätsannahme erwies sich als chaotisch und verstörend; sie steckt voller „Anomalien“. Der Mensch entscheidet tatsächlich anders, als man so denkt.

Selten mochte diesen Sprachgebrauch nicht: Nicht das tatsächliche Entscheidungsverhalten stelle eine Anomalie dar, betonte er in der für ihn typischen auch begrifflichen Präzision, sondern die im herkömmlichen Modell unterstellte perfekte Rationalität. Dabei bezeichnete er sich selbst als „Dualisten“, der diese Rationalitätsannahme für Benchmark-Szenarien durchaus zulasse, also zum Vergleich realer Situationen mit einem Standard, nach dem die Menschen über eine Rationalität verfügten, „die sie gern hätten, wenn sie nur könnten“ (Vgl. Interview mit Reinhard Selten in: Karen Horn (2012), Die Stimme der Ökonomen, Wirtschaftsnobelpreisträger im Gespräch, S. 220-250.).

Es schien Selten dabei nicht zu bekümmern, dass im ökonomischen Kaninchenbau hinter der mit allerlei findigen Versuchsanordnungen geöffneten Tür der Rationalitätsannahme nicht nur ein Wunderland mit Grinsekatze, verrücktem Hutmacher und Schildkrötensupperich lauern könnte, sondern eine ordnungspolitisch bedenkliche Welt privater und staatlicher Manipulationsmöglichkeiten. Das war nicht sein Thema und musste es auch nicht sein.

Aber ein Thema ist es. Denn die Schutzmauer zwischen der passiven Erklärung interaktiver Phänomene und ihrer aktiven Steuerung ist in der Ökonomik immer rasch überwunden; die experimentelle Wirtschaftsforschung lädt förmlich dazu ein. Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Unternehmen die Anreize in ihren Entlohnungssystemen an die neuen Erkenntnisse über das Entscheidungsverhalten ihrer Angestellten anpassen oder wenn Online-Spezialisten Handelsplattformen entwerfen, die trotzdem einem – wie auch immer gearteten – Effizienzkonzept zu genügen versprechen. Doch wenn der paternalistische Staat nach Wegen sucht, Rationalitätsdefizite der Bürger auszumerzen, wird die Sache gefährlich. Darf er das? Zu welchem Zweck? Mit welcher Begründung? Im Rahmen welcher Verfahren, mit welchen Schranken? Es stellt sich die nicht einfach zu beantwortende Legitimationsfrage.

Nein, die klassische Rationalitätsannahme ist keineswegs ein alter Hut, bloß ein Notbehelf, gar eine praktische, aber völlig in die Irre führende modelltheoretische Abkürzung. Sie ist auch mehr als bloß eine technische Benchmark. Sie ist vor allem ein Schutzmechanismus, der jene Übergriffe zu vereiteln hilft, die offenbar unvermeidlich mit dem menschlichen Drang verbunden sind, die in wissenschaftlicher Neugier errungene Erkenntnis auch alsbald in politische Gestaltung umzusetzen. Analog dazu ist es in der politischen Philosophie üblich, die Menschen als gleich zu denken. Natürlich entspricht dies nicht der ökonomischen und sozialen Lebenswirklichkeit, doch zur Beantwortung der Frage nach legitimer freiheitlicher Herrschaft ist diese Denkfigur eine zwingende systematische Voraussetzung. Denn sonst landete man ohne Federlesens bei der Billigung von autoritären Verhältnissen – und aus diesem Alptraum gäbe es dann, ganz anders als im Fall von Alice, kein sanftes Erwachen.

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