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Deutsch zu sein bedarf es wenig? Von wegen. Es muss geübt werden.

Deutschland will eine offene Gesellschaft sein. Doch das geht nicht, ohne Veränderungen zuzulassen. Wer sich eine freiheitliche, offene und tolerante Lebensweise wünscht, muss akzeptieren, dass sich althergebrachte Ansichten, über das, was deutsch sein ausmacht, längst überholt haben. Den beiden Autoren ist der schwierige Spagat gelungen, eine Definition zu formulieren, die die Werte unserer Gesellschaft bewahrt und gleichzeitig Neues zulässt – eine Definition, die provoziert. Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen – ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Verlag, Berlin 2016

Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen – ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Verlag, Berlin 2016Deutschland ist nach den USA das beliebteste Einwanderungsland der Welt. Ein Grund zum Feiern? Für viele nicht. Oder nicht mehr. Die Erfahrung aus der seit Anfang 2015 anhaltenden Flüchtlingskrise hat viele Deutsche verunsichert und verängstigt. Die Nerven liegen blank und jedes auch nur ansatzweise polarisierende Wort löst in Politik und Wirtschaft eine mittelschwere Krise aus. Da ist es mutig, ein Buch zu verfassen, das Orientierung darüber geben möchte, was Flüchtlingsströme und Migrationssysteme eigentlich bedeuten, was der moderne Wohlfahrtsstaat zu leisten imstande ist und wie alte Werte durch neue Normen und Erwartungen überarbeitet werden müssen.

Die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler und ihr Mann, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, wagen den Sprung nach vorn und stellen in ihrem nun erschienenen Buch mit dem recht anmaßenden Titel „Die neuen Deutschen – ein Land vor seiner Zukunft“ eine fordernde Prognose: Der Wandel zu einem wirklichen Einwanderungsland und der damit verbundene Umbruch der deutschen Gesellschaft kann nur gelingen, wenn wir endlich wagen, die sehr heikle Grundsatzfrage zu klären: Was ist es – dieses Deutschsein? Was sind Werte, die wir als Gemeinschaft von Menschen fordern, mit denen wir in diesem Land zusammen leben wollen? Die Autoren nehmen damit den Politikern, vor allen den regierenden, die längst fällige, vermutlich aber gefürchtete Aufgabe ab, zu definieren, was – frei aller Deutschtümelei – den Bundesbürger in seinem Innersten zusammenhält.

Steckbrief für die Aufnahme von Zuwanderern

Natürlich war die aktuelle deutsche Flüchtlingspolitik anfänglich viel zu kurzsichtig angelegt. Chaos, Ängste und Ressentiments waren vorprogrammiert. Doch allmählich finden die Länder Europas zu einer gemeinsamen, wenn nicht immer optimalen Lösung (EU-Türkei-Abkommen). Auch stehen noch Rücknahmeabkommen mit Ägypten und den nordafrikanischen Staaten aus. Zwar ist die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Deutschland mittlerweile zurückgegangen. Doch die weltweite Migration wird lange nicht abebben. Schon deswegen muss sich die Bundesrepublik dazu bekennen, wie sie Menschen tatsächlich nicht allein nach administrativen Aspekten, sondern auch „über Identitätszuschreibung“ – wie die Autoren formulieren – zukünftig integrieren will, „um aus Fremden Deutsche zu machen“. Im Steckbrief hieße das, Menschen aufzunehmen, „die nicht nur geographisch in der Bundesrepublik ihre Heimat sehen, sondern sich auch mit den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Werten dieser Nation identifizieren können“.

Deutsch sein als Selbstschutz

Zweifellos ist Deutschland bereits ein Land der Weltoffenheit und sozialen Integration. Das große Engagement der Flüchtlingshelfer und -organisatoren spricht dafür Bände. Daher mag es provokant aufstoßen, dass es den Autoren „nicht um die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der Neuangekommenen [geht], sondern um deren Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft der Alteingesessenen“. Sie weisen deutlich darauf hin, dass vielen Migranten die Integrationswilligkeit und -fähigkeit von vornherein abgesprochen wird. „Oft heißt es dann, dass Deutscher nur sein kann, wer hier geboren ist und wessen Vorfahren schon seit Generationen hier gelebt haben“, schreiben Münkler und Münkler. Das jedoch sei nichts als eine Behauptung, mit der die Alteingesessenen gegenüber den Tüchtigen und Leistungsfähigen privilegiert würden. „Sie sagen Deutsch, meinen aber Selbstprivilegierung. Die Vorstellung des Deutschseins dient hier dem Selbstschutz derer, die sich vor einem Leistungsvergleich scheuen und keinerlei Konkurrenz ausgesetzt sein wollen.“

Fünf neue Kriterien für die Aufnahme

Die Kritik der Autoren zielt natürlich nicht auf die vielen Helfer, die sich weit über ihre Kräfte in der Flüchtlingskrise engagieren. Sie zielt vielmehr auf gewisse politische Bewegungen, die sich zurzeit nicht nur, aber vor allem in den neuen Bundesländern wie ein Lauffeuer ausbreiten. Vielleicht auch, um dumpf backigen Parolen über das Wesen der Deutschen Einhalt zu gebieten, haben sich die Autoren auf eine Definition mit fünf Kriterien verständigt, die einem modernen, wenn auch stark leistungsorientieren Gesellschaftsverständnis entsprechen: 1. Jeder soll den Ehrgeiz haben, für sich und seine Familie selbst zu sorgen und nur in Not- und Ausnahmefällen auf Unterstützung des Staates zu setzen. 2. Wer hier leben will, muss überzeugt sein, dass er durch persönliche Leistung sozialen Aufstieg erreichen kann. 3. Religiöser Glaube ist Privatangelegenheit und spielt für das gesellschaftliche Leben eine nachgeordnete Rolle. 4. Die Lebensform und Wahl der Lebenspartner ist frei und wird von niemandem anders vorgegeben. 5. Das Grundgesetz ist verbindlich.

Ausruhen gilt nicht – stelle Dich Deinem Land!

Was wie der kleine Katechismus marktwirtschaftlichen und soziokulturellen Glaubens klingt, ist der Versuch, Menschen, die in Deutschland leben wollen, nach ihren Überzeugungen und Meinungen statt nach Herkunft und Motiven zu befragen. Auch wenn der Leistungsgedanke in ihrer Definition eine große Rolle spielt, sind sich die Autoren darüber bewusst und postulieren auch, dass ein Staat immer offen dafür bleiben muss, aus humanitären Gründen auch diejenigen Menschen in besonderen Notlage aufzunehmen, die eine der ersten vier Kriterien möglicherweise nur schwer erfüllen können. Aber: Geht es nach Münklers muss sich letztlich jeder irgendwann die Frage stellen, was er seinem Land bieten kann: „Deutschsein ist kein Merkmal, auf dem man sich ausruhen kann, weil man es qua Geburt bekommen hat“. In diesem Land leben zu dürfen, heißt für die Autoren, sich auch den Anforderungen, die diese Gesellschaft hat, zu stellen.

Fazit: In sensibler Zeit ein provokantes und lesenswertes Buch. Migration und Integration müssen strategisch miteinander verknüpft werden – letztlich eine Herkulesaufgabe. Sie kann nur gelingen, wenn alle gewillt sind, Ängste und liebgewonnene Bequemlichkeiten abzubauen, um den Traum eines Lebens in einer offenen, leistungsorientierten und fürsorglichen Gesellschaft zu erhalten.

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