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100 Millionen Deutsche? Über die Schwierigkeiten der Bevölkerungsvorhersage

Die Bevölkerung in Deutschland wird massiv schrumpfen – das gilt als ausgemacht. Doch unter keineswegs abwegigen Annahmen könnte es auch ganz anders aussehen.

Im April 2015 veröffentlichte das Statistische Bundesamt die „13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung“. Der Tenor dieser Auswertungen, die seit 1965 in unregelmäßigen Abständen alle paar Jahre verkündet werden, ist seit langem derselbe: Auf kurze Sicht mag es in Deutschland noch etwas mehr Einwohner geben, aber über ein halbes Jahrhundert wird die Bevölkerung schrumpfen, und zwar deutlich. Mit einer höheren Fertilität könnte man vielleicht gegensteuern, Einwanderung hingegen würde kaum einen Unterschied machen. Und auf jeden Fall wird der Anteil der Älteren an der Bevölkerung massiv steigen.

Von Kritikern wie dem Statistiker Gerd Bosbach werden derartige Vorausberechnungen nicht zu Unrecht als moderne Kaffeesatzleserei abgetan. Schon kleine Änderungen bei den Annahmen können sich über einen langen Horizont zu großen Abweichungen aufbauen. Das lässt sich auch gut an den bisherigen Ergebnissen für die zukünftigen Bevölkerungszahlen ablesen, die jeweils schon nach wenigen Jahren um Millionen, und das meist nach oben, korrigiert werden mussten. Das hindert die Medien allerdings nicht daran, die Botschaft ins Alarmistische zu übersetzen. Schon 1975 fragte der Spiegel sorgenvoll: „Sterben die Deutschen aus?“ Und 2004 durfte dann sogar „Der letzte Deutsche“ auf das Titelbild.

Grundsätzlich ist gegen eine Vorausberechnung nichts einzuwenden. Man hat einen festen Zusammenhang zwischen Größen. Die einen, die Annahmen, sind dem Verständnis leicht zugänglich, die anderen, ihre Folgerungen, hingegen weniger. Und so steckt man verschiedene Eingaben hinein und schaut sich an, was dabei herauskommt. Letztlich betrachtet man dabei dieselbe Sache nur aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln, und das kann selbstverständlich zu neuen Einsichten führen.

Wie auch vom Statistischen Bundesamt klargestellt wird, handelt es sich bei einer Vorausberechnung nicht um eine Prognose. Bei einer Prognose wäre das Ergebnis offen. Vielmehr folgt hier aus dem „Wenn“ der Annahmen, notwendig das „Dann“ der Ergebnisse. Doch diese Qualifikation ist mehr ein Vorwand, um sich im Zweifelsfall von der naheliegenden Interpretation zu distanzieren, die man selbst vorantreibt, indem man in die Öffentlichkeit drängt. Denn wenn die Annahmen sich gut vorhersagen ließen, dann könnte man mit einer Vorausberechnung aus ihnen notwendige Schlussfolgerungen ziehen, die ebenfalls eine Vorhersage darstellen. Nur so wird die Übung überhaupt interessant.

Was dabei nur leicht aus dem Blick gerät: Man hat die Vorhersage der Ergebnisse bloß in eine für die Annahmen verwandelt. Und diese muss nicht unbedingt einfacher sein. Da der Blick auf die Folgerungen gerichtet ist, kann man allerdings recht unauffällig subjektive Meinungen einbringen; denn die Annahmen müssen höchstens plausibilisiert werden.

Wie geht das Statistische Bundesamt nun vor? In der Berechnung 2015 denkt man sich acht Szenarien aus, die jeweils zwei Einstellungen für die Fertilität (erwartete Anzahl von Kindern pro Frau), die Lebenserwartung und die Zuwanderung kombinieren. Hiermit berechnet man dann eine Bandbreite für die Bevölkerungszahl im Jahre 2060 von 67,6 bis 78,6 Millionen sowie weitere Strukturdaten. Etwas seltsam ist dabei allerdings, dass im zentralen Schaubild des Berichts nur das niedrigste und ein weiteres niedriges Szenario mit einem Endstand von 73,1 Millionen unter dem Titel „Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“ grafisch dargestellt werden. Bei einem Endstand von 78,6 Millionen, der nur im Text erwähnt wird, wäre die Botschaft des unaufhaltsamen Aussterbens vielleicht nicht mehr so eingängig gewesen.

Man scheint 2015 allerdings von den Ereignissen etwas überrollt worden zu sein. Die Vorausberechnung drohte wohl zur Makulatur zu werden, weil die Einwanderung nicht im Rahmen der Annahmen blieb. So baute man auf die Schnelle weitere Sonderszenarien ein, die keine und eine etwas höhere Einwanderung durchspielen sowie einen drastischen Sprung der Fertilität auf das Ersatzniveau von 2,1 Kindern pro Frau. Das war alles so heiß gestrickt, dass die Ergebnisse zwar im Text angekündigt, aber nirgendwo aufbereitet wurden. Nur am Ende eines Zahlengrabs sind sie zu finden.

Der Eindruck einer gewissen Einseitigkeit in der Darstellung verstärkt sich noch weitaus, wenn man die Szenarien genauer betrachtet, die den Berechnungen zugrunde liegen. In jeder der drei Dimensionen haben nämlich die Annahmen einen Drall, der zu niedrigen Bevölkerungszahlen und einem hohen Anteil der Älteren im Jahre 2060 führt. Es ist prinzipiell nichts daran auszusetzen, dass Parameter auch einmal stärker ausgefahren werden, um einen Überblick über die Bandbreite zu gewinnen. Aber wenn dies nur in einer Richtung geschieht, gerät auch nur die eine Seite in den Blick. Als Ausgleich werden deshalb im Folgenden weitere Szenarien vorgeschlagen, die mindestens so plausibel wie ihre Gegenstücke auf der anderen Seite sind.

Annahmen für die Fertilität

Für die Fertilität geht man von einem Wert von 1,4 Kindern pro Frau aus, der bis 2060 konstant bleiben wird. Als eher gewagte Annahme spielt man demgegenüber eine Fertilität von 1,6 durch. Zunächst ist dazu zu bemerken, dass eine konstante Fertilität über fast ein halbes Jahrhundert noch nie eingetreten ist und man hier je länger der Zeitraum, desto mehr mit Schwankungen rechnen sollte. Aber dies einmal zugestanden, ist die Wahl der Werte erstaunlich, denn eine Fertilität von 1,6 ist nach einer Korrektur für den sogenannten Tempo-Effekt eher der realistische Referenzpunkt, wenigstens auf kurze Sicht. Wenn man demgegenüber ein Absinken auf 1,4 ins Spiel bringt, dann sollte man eigentlich auch einen Anstieg auf 1,8 betrachten.

Nur aus dem Zusammenhang ist zu verstehen, wieso auf den letzten Drücker dann doch noch eine einzelne Rechnung für ein Szenario mit einer Fertilität auf Ersatzniveau von 2,1 hinzugefügt wurde. Da die Zahlen für die Einwanderung wegzuschwimmen drohten, musste man noch eine etwas höhere Einwanderung als weiteres Sonderszenario zugestehen. Damit wäre aber vielleicht zu offensichtlich geworden, dass Einwanderung die Bevölkerungsentwicklung merklich beeinflussen kann. Um deren geringe Bedeutung herauszustellen, flankierte man wohl deshalb die Szenarien durch eines mit einer derzeit nicht absehbaren Fertilität von 2,1, die sogar einen leichten Anstieg der Bevölkerung bis 2060 ergibt. Ironischerweise resultiert der im Wesentlichen aus der eingebauten Einwanderung von 100.000 Menschen pro Jahr. Die Ergebnisse sind allerdings nur für den Liebhaber zu finden und werden im beigefügten Text nicht diskutiert.

Annahmen für Lebenserwartung

Ebenfalls einseitig geht man auch an die Lebenserwartung heran. Als gemäßigtes Szenario wird ein Anstieg von 7 und 6 Jahren bis 2060 für Männer, bzw. Frauen angenommen. Zusammen mit der zu niedrig gegriffenen Fertilität nennt man das nicht ganz nachvollziehbar „Kontinuität“. Als Alternative kann man sich nur eine noch stärkere Steigerung für die Lebenserwartung vorstellen, nämlich um jeweils 9 und 7,6 Jahre. Dazu wird jeweils einfach der Trend der langen oder sehr langen Vergangenheit über Jahrzehnte extrapoliert. Diskutiert wird dies im Zusammenhang der Entwicklungen seit der Reichsgründung 1871, womit die Annahmen des niedrigeren Szenarios, wie man es suggestiv nennt, „moderat“ erscheinen.

Wieso ist das nicht unbedingt plausibel? In der Vergangenheit sank die Sterblichkeit besonders im jungen Alter, doch das ist mittlerweile kaum noch möglich. Nach der Sterbetafel 2010/12 würde selbst die Beseitigung aller Todesursachen bis zum 65. Lebensjahr, inklusive Unfällen, Selbstmorden und Verbrechen, die Lebenserwartung für Männer nur noch um 4 ¾, für Frauen um knapp 3 Jahre erhöhen. Über die vergangenen 45 Jahre stieg die restliche Lebenserwartung diejenigen, die das 65. Lebensjahr erreicht hatten, bei den Männern um 5 ¼ Jahre und bei den Frauen um 5 ¾ Jahre.

Selbst bei Eliminierung aller Todesursachen bis zum Alter von 65 Jahren und zusätzlich einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung oberhalb von 65 Jahren wie in der Vergangenheit käme man nur auf 10 Jahre mehr an Lebenserwartung für Männer und 8,7 Jahre für Frauen. Das höhere Szenario ist von daher sehr ambitioniert, und selbst das „moderate“ Szenario muss hier einiges voraussetzen. Wünschenswert erschiene demgegenüber ein wirklich moderates Szenario, das spiegelbildlich zur höchsten Annahme niedriger ausfiele und damit eine Steigerung um 5 und 4,4 Jahre bis 2060 für Männer, bzw. Frauen unterstellt. Das entspräche einer Verlangsamung des bisherigen Trends und nur geringen Zugewinnen im jüngeren Alter. Das wäre ja auch schon was.

Annahmen für die Einwanderung

Doch die erstaunlichste Wahl findet sich bei der Einwanderung. Hier geht man von einem Szenario mit einem „schwächeren“ Wanderungssaldo von 100.000 pro Jahr aus und mit einem „stärkeren“ von 200.000. Da wohl die Daten für 2014 und 2015 nicht vorlagen, schätzte man jeweils einen Zuzug von netto einer halben Million, der sich über die folgenden Jahre zügig auf den Endwert reduzieren sollte. Wie wenig zukunftsfest das war, kann man bereits gut ein Jahr später sehen. Um diese Parametrisierung für die Einwanderung nun zu plausibilisieren, führt man im Text erklärend aus: „Im langfristigen Durchschnitt bewegte sich der Wanderungssaldo zwischen 142 000 Personen pro Jahr vor der deutschen Vereinigung und 186 000 Personen pro Jahr im gesamten Zeitraum zwischen 1954 und 2013.“ Doch man darf fragen: Wieso wirft man bei der zweiten Zahl die Äpfel alte Bundesrepublik mit den Birnen nach der Wiedervereinigung zusammen und mittelt hier auch noch mal über den Zeitraum vor 1990 aus? Man sollte doch erwarten, dass am ehesten die Daten für Gesamtdeutschland relevant sind, inklusive der Schätzungen für 2014 und 2015. Dass man diese naheliegende Zahl nicht einmal nennt, hat wohl einen Grund. Selbst mit den zu niedrigen Annahmen für 2014/15 ergibt sich nämlich ein Mittelwert von 254.000 seit 1991 (mit den tatsächlichen Zahlen sogar von etwa 280.000). Eine Einwanderung von 100.000 und 200.000 stellt somit ein sehr niedriges und ein niedriges Szenario dar.

Dass es nicht mehr Einwanderung geben kann, wird durch eine Gegenüberstellung der Bevölkerungsentwicklung in Osteuropa und in moslemischen Ländern suggeriert. Das soll wohl heißen, dass es zukünftig gar nicht hinreichend viele Einwanderer außer aus moslemischen Ländern – ein verräterisches Indiz für die ideologische Herangehensweise! – geben könnte. Doch abgesehen davon, dass das eine falsche Alternative ist in einer Welt, in der es auch noch mehrere Milliarden Menschen anderswo gibt, ist das für eine Vorausberechnung irrelevant. Schließlich geht in diese nur die Zahl ein, nicht wer da kommt. Nur wenn das Statistische Bundesamt sich dazu berufen fühlt, normativ zu entscheiden, dass gewisse Ausgangsländer nicht in Betracht kommen, könnte man so argumentieren. Geradeso wie die niedrigen Szenarien hätte man hier also auch zwei höhere mit 300.000 und 400.000 Einwanderern jährlich in Betracht ziehen müssen.

Korrektur der Bandbreite

Was bewirken diese tendenziösen Annahmen? Ohne Rechnung kann man sofort festhalten: In jedem Fall führen sie zu einem höheren Anteil der Älteren im Jahre 2060. Und da die Fertilität eine stärkere Auswirkung als die Lebenserwartung auf die Bevölkerungsentwicklung hat, rechnet man damit auch noch die Bevölkerungszahl klein. Für die untere Grenze der Bandbreite leistet die Vorausberechnung bereits das Menschenmögliche. Letztlich ist hier nur eine kleine Korrektur zu vermerken, die weiter unten nachgereicht wird. Anders sieht es auf der anderen Seite aus.

Das höchste Szenario sollte eigentlich von folgenden Annahmen ausgehen: einer Fertilität von 1,8, der maximalen Steigerung der Lebenserwartung und einer Einwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr. Mit einer Annäherung kann man den Endstand für dieses Szenario erschließen. Zusätzliche 0,2 Kinder bei der Fertilität führen in der Vorausberechnung zu etwa 3,75 Millionen mehr an Bewohnern. Das Szenario für die Lebenserwartung wird bereits durchgespielt und muss nicht angepasst werden. Und weitere 100.000 Einwanderer pro Jahr sollten zu etwa 5,6 Millionen zusätzlicher Bevölkerung 2060 führen, wenn – ein großes Wenn! – das Statistische Bundesamt hier mit realistischen Annahmen rechnet.

Zusammengenommen ergibt sich deshalb gegenüber dem nächstgelegenen Szenario in der Vorausberechnung (Fertilität 1,6, höchste Lebenserwartung und ein Wanderungssaldo von 200.000 jährlich) mit einem Endstand von 78,6 Millionen im Jahre 2060 eine Korrektur um 14,95 Millionen nach oben, also aufgerundet: 93,6 Millionen. Und nun versteht man auch, wie die tendenziöse Wahl der Annahmen wohl zustande kam: Nach Jahrzehnten von Vorausberechnungen, die ein drastisches Schrumpfen der Bevölkerung in Aussicht stellten, hätte man zugeben müssen, dass die Bevölkerung durchaus auch deutlich wachsen könnte. Die Mitte der Bandbreite läge bei undramatischen 80 Millionen Einwohnern im Jahre 2060.

Doch es wird noch bunter. Bis hierhin wurde angenommen, dass das Statistische Bundesamt mit realistischen Annahmen gerechnet hat. Das kann man aber bezweifeln. Vielmehr scheint es so zu sein, als wenn der Behörde und ihren illustren Beratern, wie etwa Herwig Birg, ein subtiler Fehler unterlaufen sei, der zu nicht unerheblichen Unterschätzungen gerade über längere Zeiträume führt.

Sind die Annahmen realistisch?

Wenn 100.000 pro Jahr mehr einwandern, dann beläuft sich ihre Gesamtzahl bis 2060 auf 4,5 Millionen Menschen. Der Unterschied zwischen den Endständen in den Szenarien beläuft sich aber auf ungefähr 5,6 Millionen Menschen. Zu den 4,5 Millionen Einwanderern sind also 1,1 Millionen Menschen hinzugekommen. Das sollte nicht verblüffen, denn schließlich kommen Einwanderer eher in einem jüngeren Alter und werden schon bald Kinder und bis 2060 sogar teilweise Enkel bekommen. Hierdurch fällt der Bevölkerungszuwachs höher aus als die schiere Zahl der Einwanderer. Verblüffend ist hingegen, wie gering dieser Unterschied sein soll.

Unterstellt man ein durchschnittliches Alter bei Einwanderung von 25 Jahren und macht einige nicht sehr gewagte Annahmen, so rechnet man für die beiden Fälle einer Fertilität von 1,4 und 1,8 Kindern pro Frau aus, dass der Bevölkerungszuwachs bis 2060 um ungefähr 50 bzw. 60 Prozent über der Zahl der Einwanderer liegen sollte. Das bedeutet aber, dass aus den 4,5 Millionen, die einwandern, bis 2060 in den beiden Varianten 6,75 Millionen bzw. 7,2 Millionen Menschen werden, und nicht nur 5,6 Millionen. Diese Größenordnung passt auch sehr gut zu den Ergebnissen, die Holger Bonin in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung für eine zusätzliche Einwanderung von 100.000 Menschen erhält. Er geht davon aus, dass die Altersverteilung um eine Spitze bei 25 Jahren konzentriert ist und bis zu einem Alter von 60 Jahren rasch abfällt.

Die Annahmen des Statistischen Bundesamtes sind in dem Punkt nicht transparent, lassen sich aber aus den Ergebnissen erschließen. Danach wird für die Einwanderer eine Verteilung unterstellt, deren Spitze bei 31 Jahren liegt und die deutlich langsamer bis zum Alter von 70 Jahren abfällt. Das klingt nicht nach viel. Doch so wird unterstellt, dass die Einwanderer ihre Familienplanung schon zu einem guten Teil hinter sich haben, und das führt dann zu so wenig Zuwachs bis 2060.

Wenn dieses Argument stimmt, dann gehen pro 100.000 jährliche Einwanderer in der Berechnung des Statistischen Bundesamtes 1,15 Millionen (Fertilität 1,4) bzw. sogar 1,6 Millionen (Fertilität 1,8) über den Zeitraum bis 2060 in der Berechnung verloren. Mit der Annahme von 400.000 Einwanderern jährlich ergibt sich im höchsten Szenario damit ein Korrekturbedarf von mindestens 6,4 Millionen. Der Endwert steigt deshalb von den oben berechneten 93,6 Millionen auf 100 Millionen. Berichtigt man zusätzlich auch noch die Unterschätzung für die Zuwanderung gleich in den ersten Jahren, so kommen noch einmal ein bis zwei Millionen Menschen hinzu.

Für das niedrigste Szenario sind hingegen nur kleinere Anpassungen nötig. Man sollte hier ein vorsichtigeres Szenario für die Lebenserwartung unterstellen, was einen Abschlag von 1,65 Millionen bedeuten würde. Das hebt sich aber mit dem Fehler für die Einwanderung um 2015 im Wesentlichen weg. Wenn das Statistische Bundesamt mit den richtigen Annahmen rechnet, muss man am niedrigsten Szenario also nichts ändern. Wenn man realistischere Annahmen macht, wäre hingegen eine weitere Korrektur um gut eine Million nach oben fällig, womit sich ein Endwert von knapp 69 Millionen ergäbe.

Ergebnis

Man mag einwenden, dass für diese Resultate an den Parametern gedreht wurde. Sicherlich! Aber nicht mehr, als das Statistische Bundesamt an ihnen in der anderen Richtung gedreht hat. Es geht ja darum, die Bandbreite symmetrisch auszuloten. Und das Fazit lautet zusammengefasst: Die Bevölkerung Deutschlands wird 2060 unter realistischen, aber in beide Richtungen unsicheren Annahmen zwischen knapp 70 und gut 100 Millionen liegen.

Zugegeben, das ist etwas wie die Vorhersage, dass die Temperatur morgen zwischen -20 und +60 Grad Celsius liegen wird. Aber mehr kann man bei einer Vorausberechnung bis 2060 auch gar nicht erwarten. Es muss hier einfach eine erhebliche Unsicherheit herrschen. Dennoch ist das Resultat erhellend. Die angebliche Bedeutungslosigkeit von Einwanderung löst sich in nichts auf. Ganz im Gegenteil macht gerade sie einen sehr großen Unterschied.

Allerdings ist das alles auch etwas frustrierend. Sterben die Deutschen vielleicht gar nicht aus? Wie hätten wohl die deutschen Medien reagiert, wenn das Statistische Bundesamt ex cathedra eine Schrumpfung der Bevölkerung in Deutschland bis 2060 auf 70 Millionen für ebenso plausibel wie ein Wachstum auf 100 Millionen erklärt hätte, mit einem mittleren Wert bei etwa 85 Millionen Einwohnern?

Aber keine Sorge, man könnte hier wohl auf die Kernkompetenz von Panikmachern rechnen. Wenn es auf 100 Millionen zuginge, ließe sich bestimmt auch etwas draus machen:

  • Werden die Rentner zu verwöhnt?
  • Wird das letzte Stück Natur für die vielen Menschen zubetoniert?
  • Was ist mit Dichtestress?
  • Und wie bekommen wir die Autarkie beim nächsten Krieg hin?

Was auch immer, die Uhren stehen in Deutschland ja sowieso stets auf 5 vor 12.

Dieser Artikel erscheint auch bei Novo Argumente.

Dr. Hansjörg Walther studierte Mathematik und war lange Zeit in der Finanzbranche tätig. Aktuell baut er seinen Verlag Libera Media auf, der unter anderem auch die im Artikel erwähnte Literatur wieder zugänglich macht.

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