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Wir müssen die EU durch differenzierte Integrationstiefen stärken!

Die EU sollte auf mehr Differenzierungsmöglichkeiten und unterschiedliche Integrationstiefen setzen und beim Brexit kollektive Selbstschädigung mit gravierenden Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in der EU und Großbritannien vermeiden.

Dr. Susanne Cassel und Dr. Tobias Thomas

Autor/Autorin

Dr. Susanne Cassel und Dr. Tobias Thomas

sind Vorsitzende bei Econwatch, einer gemeinnützigen und unabhängigen Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verständlich und wissenschaftlich fundiert über Wirtschaftspolitik zu informieren und Reformmöglichkeiten aufzuzeigen.

Der folgende Policy-Brief (.pdf) entstand auf Grundlage des Econwatch-Meetings „Nach dem Brexit – Wie geht es weiter mit Europa?“ mit Prof. Dr. Michael Wohlgemuth (Universität Witten/Herdecke und Open Europe Berlin). Das Video wurde im Vorfeld der Veranstaltung aufgenommen.

Bitte um dieses Video anzusehen.

Bei dem Referendum vom 23. Juni 2016 haben die Briten für einen Paukenschlag gesorgt und für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Neben der Frage, wie dieser Austritt vollzogen werden und wie das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien aussehen soll, hat der Brexit auch die grundsätzliche Frage aufgeworfen, wie es innerhalb der EU weitergehen soll. Die bisher verfolgte Strategie, die Integration immer weiter zu vertiefen und gleichzeitig auf weitere Bereiche und Länder auszudehnen, stößt zunehmend an ihre Grenzen. So hat sich in der europäischen Staatsschuldenkrise gezeigt, wie gering die Halbwertszeit einmal aufgestellter Regeln in der EU ist. Und beim Umgang mit den Migrations- und Flüchtlingsströmen ist abermals deutlich geworden, wie schwierig es für die EU ist, gemeinsame Antworten auf wichtige Fragen zu finden. Der Brexit kann eine Chance darstellen, wenn er zum Anlass genommen wird, die EU neu aufzustellen und das Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit wieder zu stärken. Ein „Weiter so!“ mit lediglich kosmetischen Korrekturen kann nicht die Antwort sein. Vielmehr sollten die EU-Mitgliedstaaten der Einsicht folgen, dass „one size fits all“ ein Trugschluss ist, und einen Modus der Zusammenarbeit etablieren, der mehr Differenzierung und unterschiedliche Integrationstiefen je nach Thema erlaubt. In den Austrittsverhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU muss es auf beiden Seiten darum gehen, die negativen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung möglichst gering zu halten.

Nach dem Votum der Briten, die EU zu verlassen, muss nun geklärt werden, nach welchem konkreten Modell der Austritt geschehen soll. Während die Briten vor allem wieder mehr Kontrolle über wichtige Fragen insbesondere im Bereich Migration, Regulierung und Rechtsprechung erlangen möchten, hat die EU deutlich gemacht, dass sie keinem Modell des Rosinenpickens zustimmen wird. Die vier Grundfreiheiten freier Güter- und Warenverkehr, Kapitalverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Personenfreizügigkeit sind aus Sicht der EU-Kommission sowie der nationalen Regierungen nur im Paket zu bekommen. Dies nicht zuletzt aus der strategischen Erwägung heraus, keine Anreize für andere potenzielle Austrittskandidaten zu schaffen. Wie der Trade-off zwischen dem britischen Wunsch nach Begrenzung der Einwanderung und der Position der EU aufgelöst wird, der Teilnahme am Binnenmarkt nur dann zuzustimmen, wenn Großbritannien alle vier Grundfreiheiten gewährt, wird sich zeigen. In jedem Fall sollte verhindert werden, dass es am Ende zu einer kollektiven Selbstschädigung mit gravierenden Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in der EU und Großbritannien kommt.

Aber nicht nur über das Modell für den Brexit muss entschieden werden. Viel fundamentaler stellt sich die Frage, wie die Europäische Union zukunftsfest gemacht werden kann. Der bisher eingeschlagene Weg, auch bei steigender Anzahl von Mitgliedstaaten die EU immer weiter zu vertiefen und dabei souveräne Staatsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern sowie die Zusammenarbeit auf immer neue Politikfelder auszuweiten, ist an seine Grenzen gestoßen. So sind die Interessen der Mitgliedstaaten in vielen Politikfeldern zu heterogen, um sinnvolle gemeinsame Lösungen zu finden. Bereits seit vielen Jahren erodiert das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Leistungsfähigkeit der EU: Während 2004 noch 50 Prozent der EU vertrauten, waren es 2014 nur noch 31 Prozent. Dieser Vertrauensverlust spiegelt sich auch im Aufstieg nationalistischer und europafeindlicher Parteien in vielen Ländern Europas wider. Der Brexit hat nun einen Anstoß für grundsätzliche Reformen gegeben, der genutzt werden sollte.

Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU zurückzugewinnen, sollte auf Differenzierungsmöglichkeiten und unterschiedliche Integrationstiefen gesetzt werden. Je nach Themenfeld und Interessen der Mitgliedstaaten könnten sich unterschiedliche Länder zusammenschließen, um gemeinsame Lösungen umzusetzen. Damit entstünden unterschiedlich große Clubs, die jeder für sich wesentlich stabiler wären als ein „one size fits all“ in allen Bereichen. Dieses Modell trägt der Einsicht Rechnung, dass einheitliche Lösungen nicht für alle Mitgliedstaaten passend sind („one size does not fit all“). Es bietet als Alternative flexible Vertiefungschancen,  ohne  dass die Zustimmung der weniger Willigen durch Sonderregeln „erkauft“ werden müsste oder eine Vertiefung ganz ausbliebe. Die einzelnen Clubs hätten die Möglichkeit, stärker auf die unterschiedlichen Bürgerpräferenzen zu reagieren. Nicht zuletzt würde eine größere Vielfalt mehr Raum für einen Wettbewerb der Ideen und damit für neue Lösungen bringen.

Ein solches Modell flexibler Integration könnte sich als Ergänzung zu einem Kern gemeinsamer Politikinhalte („aquis communitaire“) herausbilden, auf den sich alle EU-Mitgliedstaaten einigen können. Die Möglichkeit, differenzierte Lösungen umzusetzen, könnte so zu einem neuen Motor für die EU werden. Zwar würde dieser Ansatz dazu führen, dass nicht in allen EU-Staaten dieselben Regelungen gelten, jedoch hat sich der bisherige Weg der immer engeren Union als Holzweg erwiesen. Und auch die derzeitige EU trägt bereits gewisse Züge des Club-Modells, da schon heute nicht alle EU-Mitgliedstaaten bei allen Integrationsschritten mitmachen. Beispiele sind die Eurozone, das Schengener Abkommen und der einheitliche Patentschutz.

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