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Die globale Gier nach Anerkennung

Die universelle Krise und mit ihr das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist, reichen weiter als die Probleme der Finanzkrise, des Terrorismus oder Klimawandels. Die Ursprünge der politischen und gesellschaftlichen Unordnung führen den Autor und Soziologen Pankaj Mishra bis ins 18. Jahrhundert. Verstärkt werden die heutigen Krisen für ihn allerdings durch eine uralte menschliche Schwäche: unser „Ressentiment“ allem und jedem gegenüber. Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns – eine Geschichte der Gegenwart, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017

Die Welt scheint besser gebildet, stärker vernetzt und wohlhabender zu sein als jemals zuvor. Der durchschnittliche Wohlstand ist gestiegen, wenn auch nicht gleichmäßig und gerecht. Selbst in Indien und China ist die wirtschaftliche Not zurückgegangen – das zumindest meint der britisch-indische Autor Pankaj Mishra. Auch die neue wissenschaftliche Revolution erfreut ihn: künstliche Intelligenz, Robotik, Drohnen, die Kartierung des menschlichen Genoms, Gentechnik und Klonen, eine tiefere Erkundung des Weltraums und durch Fracking gewonnene fossile Brennstoffe. Aber die versprochene universelle Zivilisation, klagt er, also die Zivilisation, die durch eine Kombination aus universellem Wahlrecht, breiten Bildungschancen, stetigem Wirtschaftswachstum, individueller Initiative und persönlichem Fortkommen für Harmonie sorgt, ist nicht Wirklichkeit geworden. Im Gegenteil. Wir leben im „Zeitalter des Zorns“, sagt der Autor. Ständig bedrängen uns grausige Bilder und Töne. Hass überzieht die Welt – von Amokläufern und Terroristen bis zu Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus. Das Internet verwandelt sich in ein „verheerend effektives Propagandainstrument im Dienste des globalen Dschihad“, Demagogen von der Sorte Erdogan in der Türkei über Narenda Modi in Indien bis zu Marine Le Pen in Frankreich und Donald Trump in den USA nutzen die in ihren Ländern aufgestaute Stimmung aus Zynismus, Langeweile und Unzufriedenheit für ihre Zwecke populistisch aus. Zudem wird der Eindruck einer aus den Fugen geratenen Welt für den Autor noch durch den Klimawandel verschärft, „der das Gefühl aufkommen lässt, der ganze Planet stünde unter Belagerung – und zwar durch uns selbst“.

Mit seinem nun erschienenen Buch „Das Zeitalter des Zorns – eine  Geschichte der Gegenwart“ möchte Mishra „ein gewisses Klima und gewisse Muster des Fühlens und Denkens vom Zeitalter Rousseaus bis in unser Zeitalter“ untersuchen. Sein 400 Seiten starker Essay will historisch wiederkehrende Phänomene und ihren gemeinsamen Ursprung aufzeigen: den Hass auf erfundene Feinde und Minderheiten als Hauptübel für ökonomische und gesellschaftliche Krisen, die Heraufbeschwörung eines imaginären Goldenen Zeitalters und die Selbstermächtigung durch Gewalt.

Messianische Visionen – entfesselter Nationalismus

Mishra beschreibt, wie sich eine „kommerziell-industrielle Zivilisation im Westen und deren Replikation in anderen Regionen“ entwickelt und wie sich eine „Ethik der individuellen und kollektiven Selbstermächtigung“ in mittlerweile so gut wie allen Gesellschaften ausgebreitet und soziale Störungen und politischen Aufruhr auslöst hat. Mishra analysiert, warum so viele von der Moderne verführte junge Menschen immer wieder ihren Zorn auf die Aufklärungsideale „Fortschritt, Freiheit und Vervollkommnung des Menschen“ entwickeln, warum sie Erlösung durch Glaube und Tradition predigen und an die Notwendigkeit von Autorität, Gehorsam und Unterordnung glauben und dafür auch Konflikte, Leid und Blutvergießen begrüßen: Die Rückkehr zu Religionen führt – so der Autor – zu messianischen Visionen und entfesseltem Nationalismus. „Unser Gefühl, das Jüngste Gericht stehe unmittelbar bevor, wird noch verstärkt durch die Ahnung, dass es nicht allein von selbstsüchtigen Politikern und Geschäftsleuten, illiberalen manipulierbaren Massen oder brutalen Terroristen herbeigeführt wird“, schreibt der Autor. Er ist überzeugt, dass jeder von uns eine Mitschuld trägt: „Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst.“

Mishra empfiehlt: Wir müssen unsere eigene Kultur überprüfen, die Eitelkeit und Narzissmus fördert. Es sei notwendig, eine Welt ohne moralische Gewissheiten und metaphysische Garantien nicht nur zu interpretieren, sondern auch über unsere eigenen Verwicklungen in alltägliche Formen der Gewalt und Enteignung und über unsere Gefühllosigkeit angesichts des allenthalben zu beobachtenden Leids nachzudenken. Unser aller Verhalten ist für Mishra abhängig vom „Ressentiment“. Der Autor bezieht sich auf den deutschen Soziologen Max Scheler (1874-1928), der die systematische Theorie des Ressentiments entwickelte und das „Ressentiment“ als typisches Phänomen vor allem derjenigen Gesellschaften sah, die auf dem Gleichheitsprinzip basieren. Das „Ressentiment“ sei fester Bestandteil von Gesellschaften, in denen zwar formale soziale Gleichheit zwischen den Menschen herrsche, zugleich aber massive Unterschiede der Macht, der Bildung, des sozialen Status und des Vermögens bestünden. Die stärkste Quelle des Ressentiments sei der „Existenzialneid“ (Max Scheler) auf Rivalen und Vorbilder – ein Gefühl, das ständig flüstere: „Alles kann ich dir verzeihen, nur nicht, dass du bist und das Wesen bist, dass du bist; nur nicht, dass ich nicht bin, was du bist.“

Unermessliches Verlangen nach Anerkennung

Was Schelers diagnostizierten „Existenzialneid“ heute verstärkt, ist für Mishra die digitale Kommunikation. Sie böte vielen in einer Zeit, in der vermittelnde Kräfte (wie Kirchen, Zünfte, Gewerkschaften oder lokale Regierungen) zwischen dem Einzelnen und einer unpersönlichen Wirtschaftsordnung schwach sind oder fehlen, „eine gewisse Erleichterung angesichts der alles durchdringenden Angst und Unsicherheit“. Die allgegenwärtige Bildschirmkultur sei für viele Menschen das wichtigste Medium, über das sie Kontakt mit der Welt aufnähmen. „Sie ist die neue vermittelnde Kraft, der neue Puffer, und wie alle anderen Medien hat sie die individuellen und kollektiven Formen des In-der-Welt-Seins verändert.“ Jeder Augenblick sei davon getränkt, von irgendwo ein Zeichen zu empfangen. Die sich jeden Morgen aufs Neue bietende Chance, in den sozialen Medien Likes und Follower zu gewinnen, habe den bislang gewohnten Umgang mit Bildern bei Millionen von Menschen in eine „obsessive Selbstdarstellung“ verwandelt. Die Pflicht, die attraktive Seite von sich selbst zu präsentieren, sei unwiderstehlich und ansteckend. „Es herrscht das Verlangen, die Anerkennung anderer zu finden und von ihnen ebenso geschätzt zu werden, wie man sich selbst schätzt.“

Genau in diesem Phänomen sehen die gegenwärtigen Demagogen ihre Chance. Sie nutzen im Zeitalter des Zorns mit Hilfe der digitalen Kommunikation, die unzufriedene Stimmung Zehntausender in einen Plan umzuwandeln und Menschen hinter sich zu bringen. Sie nähren bei den Unzufriedenen und Sich-abgehängt-Fühlenden den Verdacht, „dass die gegenwärtige Ordnung, ob nun demokratisch oder autoritär“, auf Betrug aufgebaut ist. So weit, so richtig. Doch leider bleibt uns der Autor eine griffige Antwort schuldig, wie sich diese apokalyptische Stimmung verändern könnte.

Fazit
Ein gut geschriebener Essay, informativ, unterhaltsam mit vielen Anregungen und klugen Gedanken. Sein Versuch, die aktuellen Hassgefühle unserer heutigen Gesellschaft mit den globalen und nationalen Entwicklungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen, ist ebenso mutig wie für den Leser inspirierend. Doch letztlich auch inszeniert. Denn für eine wirklich glaubwürdige Analyse seiner These bleibt das Buch zu theoretisch. Für eine glaubhafte Unterfütterung seiner These fehlt die notwendige soziologische Feldforschung.

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