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Wenn der Mensch komplizierter ist als das ökonomische Modell: Zur Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften an Richard H. Thaler

Der Mensch ist kein Homo oeconomicus. Auch wenn es um rein Wirtschaftliches geht, entscheidet niemand immer zuverlässig rational, niemand verfügt ständig über alle notwendigen Informationen, und wohl niemand verhält sich ausschließlich strikt eigennützig. Der Amerikaner Richard H. Thaler, der verdientermaßen mit dem diesjährigen Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet worden ist, hat das in vielen Facetten gezeigt. Mit seinen Konzepten, analytischen Methoden und Instrumenten hat er dazu eine wichtige und zugleich höchst populäre Forschungsrichtung in Gang gesetzt, die sogenannte Verhaltensökonomik, ausdifferenziert in „Behavioral Economics“ und „Behavioral Finance“.


Der wesentliche Beitrag der Verhaltensökonomik besteht darin, dass sie besser zu verstehen hilft, was auf Märkten geschieht und warum die Entscheidungen der Menschen mitunter andere als die erhofften Ergebnisse zeitigen – zum Beispiel auf den wegen ihrer Krisenanfälligkeit in der Kritik stehenden Finanzmärkten. Die Verhaltensökonomik kann folglich auch helfen, bei Nachjustierungen am Ordnungsrahmen und beim Aufbau neuer Institutionen böse Fehler zu vermeiden. Thaler hat mit seinen Arbeiten dafür einen wichtigen Grundstein gelegt, indem er sich dem realen individuellen Entscheidungsprozess zuwandte und Einsichten, Konzepte und Instrumente aus der Psychologie in die ökonomische Modellierung einbaute. Diese Integration der Disziplinen war überfällig.

Was haben Thaler und seine Co-Autoren da nicht alles zutage gefördert: Wir Menschen handeln auch auf Märkten kurzfristig; wir stecken in unseren Entscheidungen oftmals in einem inneren Widerstreit und spalten heikle Aspekte einer Entscheidung einfach ab; wir nehmen uns Dinge vor, die wir dann nicht einhalten können; wir mögen grundsätzlich Veränderungen nicht besonders; wir reagieren auf materielle Verluste empfindlicher, als wir uns über gleich hohe Gewinne freuen; wir schreiben einem Gut, das unser Eigentum ist, einen höheren Wert zu, als wenn es jemand anderem gehört; und uns ist häufig das Wohlergehen anderer so viel wert, dass wir dafür Verluste in Kauf nehmen, rein aus Prinzip. Manche dieser Einsichten sind einigermaßen erschreckend, andere in moralischer Hinsicht ausgesprochen tröstlich. Und wer würde sich in diesen Befunden nicht wiedererkennen?

Einige Kehrseiten hat dieser Ansatz trotz des so offensichtlichen Gewinns an Lebensnähe. Erstens verdankt sich ein Großteil dieses Forschungsimpulses einer internen Fachdebatte, in der sich die Ökonomen vornehmlich an sich selbst und der Homo-oeconomicus-Annahme abarbeiten. Das ist nicht nur ein wenig selbstreferentiell, sondern das, was davon nach außen dringt, verankert zugleich in einer ohnehin reichlich ökonomiekritischen Öffentlichkeit immer wieder das viel zu simple und damit falsche Bild, der Homo Oeconomicus sei eben doch das eigentlich dominante und vollkommen verfehlte Menschenbild in den Wirtschaftswissenschaften. In der Tat bilden perfekte Rationalität, vollständige Information und reiner Eigennutz die Grundannahmen in neoklassischen Modellen – aber nicht etwa als ernst gemeintes oder sogar normatives Menschenbild, sondern lediglich als pointierende Abstraktion. Dass der Mensch komplizierter ist als das Modell, war schon immer klar.

Wie bereits der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806 – 1873) in seinem vor 180 Jahren erschienenen Aufsatz „On the Definition of Political Economy“ erklärt hat, ist aber eine gewisse Abstraktion schlicht notwendig, wenn man sich wissenschaftlich für den Menschen als Wesen interessiert, „das Reichtum besitzen möchte und die relative Effizienz der Mittel zum Erreichen dieses Zieles beurteilen kann“. Das bedeute nicht, dass dieser Antrieb der einzige oder auch nur dominant sei. Niemand, meinte Mill, könne so töricht sein, das anzunehmen. Absichtlich von dieser Prämisse auszugehen, sei jedoch die einzige Methode, um relevante Zusammenhänge, insbesondere Anreize, zu isolieren. Thalers Forschungsprogramm freilich stellt weitgehend in Abrede, dass dies mit den herkömmlichen Homo-oeconomicus-Annahmen überhaupt sinnvoll möglich ist.
Zweitens ist mit der Verhaltensökonomik eine riesige Spielwiese für fleißige Jungwissenschaftler entstanden, auf der man zugegebenermaßen viel Spaß haben kann, weil der Nachweis verbreiteter Irrationalitäten immer auch ergötzlich ist. Mit den hier in allerlei Varianten zum Einsatz kommenden Laborexperimenten lässt sich außerdem in hoher Schlagzahl ein reicher Output an akademischen Publikationen produzieren, was für die Karriere wichtig ist. Genauer betrachtet, kommen oftmals aber nur Trivialitäten ans Licht. Ein solches Forschungsprogramm erschöpft sich irgendwann selbst.

Und drittens liegt, wie freilich immer in den Wirtschaftswissenschaften, auch hier der Gewinn an Lebensnähe im theoretischen Verständnis nicht allzu weit entfernt vom Risiko der Nutzung zu praktischer Manipulation. Zwar kann der mögliche Missbrauch natürlich niemals ein legitimer Grund sein, eine Erkenntnis abzulehnen oder gar zu unterdrücken. Aber unschön wird die Sache dann, wenn sich die Forscher auch noch selbst für eine bewusste Manipulation der Menschen durch die Politik verwenden, wie es Thaler und sein Co-Autor Cass R. Sunstein unter dem Stichwort „Nudging“ getan haben, obwohl ihnen die Gefahr einer Kollision solcher Staatseingriffe mit individuellen Rechten so ausdrücklich bewusst war, dass sie den Terminus „libertärer Paternalismus“ erfanden (vgl. mein Essay „Sklavenhalter der Zukunft“). Wo erwiesenermaßen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsschwächen vorliegen, tut im Umgang mit Menschen, deren Würde man ernst nimmt, vor allem sachliche Aufklärung not und keine zunächst noch so wohlmeinende Manipulation.

Solche Erwägungen braucht das Stockholmer Nobel-Komitee nicht anzustellen; der Preis richtet sich auf bahnbrechende, die Disziplin als Ganzes prägende Forschungsleistungen und nicht auf politische Empfehlungen. Wissenschaftlich steht ganz außer Frage, dass Richard Thaler diese höchste aller Auszeichnungen verdient. Wer indes politischen Empfehlungen nicht indifferent gegenübersteht, der muss wohl zu dem Befund gelangen, dass die wünschenswerte Interdisziplinarität in diesem Feld offenbar noch nicht weit genug gediehen ist. Um zu beurteilen, welche staatlichen Gestaltungen gut legitimierbar sind, bedarf es mehr als nur des Effizienzdenkens des Ökonomen und der Einsicht des Psychologen in die Wirrnisse menschlicher Entscheidungen. Es bedarf unbedingt auch einer soliden Argumentation auf dem Boden der politischen Philosophie. Dass manche Ökonomen hier etwas blank dastehen, ist ein Jammer. Auch in diesem Zusammenhang sei deshalb wieder empfohlen, bei John Stuart Mill nachzulesen – diesmal in seinem Klassiker „Über die Freiheit“ (1859).

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