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Mehr Disruption wagen: Wie unser Fortschrittspessimismus soziale Problem erzeugt

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme von heute sind nicht das Ergebnis eines zu schnellen technologischen Wandels, sondern von zu geringer Innnovations- und Produktivitätsdynamik. Zeit, aufs Gas zu drücken! /// Alexander Horn widmet sich im dritten Beitrag der Serie "Innovation und Disrupion" dem wachsenden Fortschrittsoptimismus.

Von bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen etwa in der Astronomie, Genetik oder Medizin, wie auch von neuen Technologien, geht auch im 21. Jahrhundert eine große Faszination aus. Weltweit sorgen immer mehr Forscher und Entwickler dafür, dass wir unsere Kenntnisse über die Natur und unsere Fähigkeiten zu deren Nutzung und Kontrolle weiter voranbringen. Auch in Deutschland wurde mit inzwischen mehr als 600.000 hier tätigen Forschern und Entwicklern ein neuer Rekord aufgestellt. Da weltweit immer mehr Ressourcen in die Forschung fließen, stehen wir möglicherweise vor großartigen wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüchen.

Die Faszination und der mit neuen Technologien verbundene Optimismus relativiert sich in der Regel aber recht schnell, wenn diesen ein mehr oder wenig großes gesellschaftsveränderndes Potential zugesprochen wird. Das Laborexperiment wird dann sozusagen zu einem sozialen Experiment mit oft nicht vorhersehbaren Folgen und Dynamiken. Dabei offenbart sich nicht selten ein gesellschaftspolitisches Minenfeld, in dem die Angst vor dem Verlust der gesellschaftlichen Kontrolle dominiert. So ist ausgerechnet der weltweit gefeierte Technologie-Antreiber Elon Musk extrem kritisch, was die sozialen Folgen von künstlicher Intelligenz angeht. Kürzlich warnte er auf Twitter, alle sollten sich „Sorgen über die Gefahren der Künstlichen (sic) Intelligenz“ machen, denn das Risiko sei „weit größer als Nordkorea.“

Kultur des Fortschrittspessimismus

Es ist schwer zu überschätzen, wie tief die Vorbehalte gegenüber gesellschaftsverändernden oder gar disruptiven Technologien inzwischen in der westlichen Kultur verwurzelt sind. 1986, im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, erreichte das Buch „Risikogesellschaft“ des deutschen Soziologen Ulrich Beck eine enorme Popularität. Beck behauptete, dass sich in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften Risikogesellschaften herausgebildet hätten. Diese seien dadurch gekennzeichnet, dass die frühere „Mangelgesellschaften“ kennzeichnenden Verteilungsprobleme und -konflikte nun durch neue Probleme und Konflikte in Gestalt wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken überlagert würden. Beck warf ernste Zweifel auf, ob die Gesellschaft in der Lage ist, die selbsterzeugten Risiken zu beherrschen. In ähnlicher Weise hatte der Club of Rome bereits 1972 mit seinem Bestseller „Die Grenzen des Wachstums“ Zweifel daran genährt, dass die Menschheit fähig ist, neue Technologien zur Überwindung von Ressourcengrenzen zu entwickeln.

„Im Bestreben, wirtschaftliche Strukturen zu erhalten, bildet staatliches Handeln inzwischen eine objektive Barriere für technologischen Fortschritt.“

Seit den 1970er- und 1980er-Jahren hat sich diese grundlegende Skepsis gegenüber den Fähigkeiten der Menschheit nicht nur erhalten, sondern erheblich verstärkt. Neben dieser pessimistischen Grundstimmung spielt inzwischen der zunehmende Kontrollverlust der Menschen mit Blick auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen eine wichtige Rolle. Die weit verbreitete Ablehnung der Globalisierung, aber auch von sogenannten „Risikotechnologien“ wie Kernenergie oder Gentechnik speist sich aus dieser Stimmung. Veränderung erscheint per se als problematisch.

Diese Entwicklung stärkt und erzeugt enorme gesellschaftliche Beharrungskräfte, da mit dem geschwundenen Vertrauen in das menschliche Potential auch jene Werte in Frage gestellt wurden, die das geistige Fundament für die Erzeugung von Wohlstand und Innovation innerhalb einer Marktwirtschaft bilden. So werden die Werte der liberalen Aufklärung, wie Vernunft, Freiheit und Fortschritt, heute im gesamten politischen Spektrum mit großer Skepsis betrachtet. Wie der britische Ökonom Phil Mullan schreibt, hat dieses kulturelle Klima die Entstehung eines „konservierenden Staates“ ermöglicht, der darauf ausgerichtet ist, soziale und wirtschaftliche Stabilität zu erreichen und zu erhalten. Dies schließt auch die Aufgabe ein, im Namen der Stabilität jegliche krisenhaften Entwicklungen der Marktwirtschaft möglichst im Keim zu ersticken – eine Politik, die seit dem Finanzmarkt-Crash 1987 zur primären Aufgabe der westlichen Notenbanken geworden ist. Im Bestreben, wirtschaftliche Strukturen zu erhalten, bildet staatliches Handeln inzwischen eine objektive Barriere für technologischen Fortschritt. Aus Angst vor den Konsequenzen, die aus dem Untergang von Unternehmen oder gar aus der von technologischen Revolutionen ausgehenden Vernichtung ganzer Wirtschaftszweige entsteht, wird der notwendige Strukturwandel aktiv verhindert.

Bedrohungsszenarien

Die Digitalisierung und Automatisierung in Industrie und Dienstleistungsunternehmen, für die die Bundesregierung im Rahmen Ihrer „High-Tech Strategie“ große Erwartungen geweckt hat, wird zum Opfer dieser enormen Beharrungskräfte. Durch die Verzahnung von industrieller Produktion mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) soll nichts Geringeres als die Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft in der vierten industriellen Revolution erwachsen. In einem 10-Punkte-Plan hat das von der SPD geführte Wirtschaftsministerium noch im Sommer jedoch von revolutionären Ambitionen Abstand genommen. Beim digitalen Wandel gehe es um „Transformation statt Disruption“, also nicht etwa um die Inkaufnahme radikaler Umbrüche, die Geschäftsmodelle und Unternehmen zerstören könnten. Die Transformation hingegen sieht das Ministerium als „einen politisch begleiteten und moderierten Prozess des digitalen Wandels.“

Auch außerhalb der Bundesregierung wird die Digitalisierungs- und Automatisierungsstrategie „Industrie 4.0“ von großen Zweifeln begleitet. Seit einigen Jahren stoßen wissenschaftliche Studien, die sich mit möglicherweise problematischen gesellschaftlichen Auswirkungen von verstärktem Technologieeinsatz befassen, auch in Deutschland auf große Resonanz. Im Raum steht die Vermutung, dass infolge der Automatisierung und Digitalisierung viele Arbeitsplätze verloren gehen und die verbleibenden Jobs höhere Qualifikationen erfordern könnten, als die dann arbeitslosen Arbeiter mitbringen oder jemals erwerben können.

Diese Ängste sind nicht neu. Bereits in den 1930er-Jahren warnte der Ökonom John Maynard Keynes vor der „technologischen Arbeitslosigkeit“, denn die Möglichkeiten, Arbeitskräfte einzusparen, wachsen schneller, als sich neue Einsatzmöglichkeiten für Arbeitskräfte finden ließen. Durch die wirtschaftliche Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese Befürchtungen lange in den Hintergrund getreten, dominieren nun aber zunehmend die Debatte.

„Gerade in Deutschland, wo man sich geradezu als Speerspitze dieses Wandels sieht, zeigt sich ein ernüchterndes Bild.“

Vor vier Jahren prophezeite eine vielbeachtete Studie, dass jeder zweite Arbeitsplatz in den USA durch Automatisierung gefährdet sei. Die daraufhin von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie zur Bewertung des deutschen Arbeitsmarktes kam unter den gleichen Prämissen zu ähnlich hohen Werten, allerdings zu einer völlig anderen Bewertung. Demnach weisen nur 12 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland Tätigkeitsprofile auf, die sich für die Automatisierung eignen. Ein Urteil darüber, ob die Automatisierung netto positive oder negative Arbeitsplatzeffekte habe, fällten die Forscher des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) damals nicht. In einer späteren Untersuchung über die Auswirkungen des technologischen Wandels in Europa von 1999 bis 2010 kam das ZEW zu der Erkenntnis, dass die Automatisierung einen positiven Gesamteffekt auf die Arbeitsnachfrage habe. Zwar hätten Maschinen die menschliche Arbeit ersetzt, aber die gestiegene Produktnachfrage habe in einem noch größeren Umfang die Arbeitsnachfrage erhöht.

Hilfe, die Roboter kommen!

Für die USA haben die Ökonomen Daron Acemoglu und Pascual Restrepo die Auswirkungen des zunehmenden industriellen Robotereinsatzes zwischen 1990 und 2007 analysiert und kommen zum entgegengesetzten Ergebnis. Sie ermittelten einen Netto-Jobverlust zwischen drei und sechs Arbeitsplätzen pro installiertem Roboter. Zudem ergaben sich in den besonders von der Automatisierung betroffenen Regionen negative Auswirkungen auf die Löhne.

Es ist bezeichnend, dass diese und andere wissenschaftliche Erkenntnisse offenbar recht große Besorgnis auslösen, obwohl zum Ende des Jahres 2016 weltweit gerade mal 1,83 Millionen Roboter installiert waren. Selbst bei der extrem pessimistischsten Annahme, dass diese Roboter jeweils sechs Arbeitsplätze netto vernichtet hätten, würde der daraus resultierende Arbeitsplatzverlust in Anbetracht der Milliarden Erwerbtätigen weltweit nicht wirklich ins Gewicht fallen. Das bisherige Problem der vierten industriellen Revolution oder des von Erik Brynjolfsson und Andrew McAffee ausgerufenen „Second Machine Age“ ist offensichtlich, dass es bisher nicht von der Stelle gekommen ist. Gerade in Deutschland, wo man sich geradezu als Speerspitze dieses Wandels sieht, zeigt sich ein ernüchterndes Bild. So wächst die Informations- und Kommunikationsbranche in Deutschland seit Jahren schwächer als die Gesamtwirtschaft. Innerhalb der Branche erreicht nur die Informationstechnik mit etwa drei Prozent jährlich ein leicht überdurchschnittliches Wachstum.

Auch der Ausbau bei der Automatisierung von Fertigungsprozessen als zweites Standbein der Industrie 4.0 verläuft nicht wesentlich dynamischer. Ein guter Indikator hierfür sind die neu installierten Industrieroboter. Die International Federation of Robotics (IFR) prognostiziert, dass zwar der weltweite Bestand an Industrierobotern sich in nur vier Jahren von 1,83 Millionen (2016) Einheiten auf 3,1 Millionen (2020) Einheiten fast verdoppeln wird. Das Wachstum findet allerdings in erster Linie in China statt. Schon 2016 erreichte die chinesische Wirtschaft einen Weltmarktanteil von 30 Prozent und ein jährliches Wachstum von über 20 Prozent. Im letzten Jahr wurden dort so viele neue Roboter installiert wie in Europa und Amerika zusammen. Mit 301 Industrierobotern pro 10.000 Beschäftigten liegt Deutschland hinter Südkorea, Singapur und Japan zwar auf einem Spitzenplatz. Das Wachstum ist in Deutschland mit knapp drei Prozent 2015 und knapp fünf Prozent 2016 aber ziemlich ernüchternd.

„Rapider technologischer Fortschritt würde den gesellschaftlichen Wohlstand durch entsprechende Steigerungen der Arbeitsproduktivität deutlich anheben.“

Studien wie die oben erwähnten, die die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte als Grundlage nehmen, thematisieren offensichtlich nicht Probleme, die als Folge einer von Innovationen angetriebenen dynamischen Wirtschaft entstehen könnten. Sie thematisieren vielmehr die Auswirkungen eines viel zu langsamen technologischen Fortschritts, der nicht ausreicht, um die westlichen Industrieländer aus der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahrzehnte zu befreien.

Rapider technologischer Fortschritt würde den gesellschaftlichen Wohlstand durch entsprechende Steigerungen der Arbeitsproduktivität deutlich anheben. Stattdessen zeigt sich in den westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten eine Verlangsamung des Produktivitätsanstiegs, ohne dass sich eine Trendwende abzeichnen würde. So bleiben die Segnungen deutlicher Produktivitätssteigerungen, die eine Verbilligung der erzeugten Waren und Dienstleistungen bewirken würden und den allgemeinen Lebensstandard heben könnten, aus.

Ja zum Wandel

Technologiegetriebener Wandel führt bei der Arbeitskraftnachfrage zu einem Rebound-Effekt. Günstigere und bessere Produkte erzeugen einen zusätzlichen Nachfrageeffekt und bewirken in der Folge in diesen Industrien eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften. In reiferen Wirtschaftsbereichen, wie beispielsweise der Agrarproduktion einschließlich Landmaschinenbau, Düngemittelindustrie usw., wird es mit einer zunehmenden Sättigung des Bedarfs und weiter steigender Produktivität tatsächlich zu Arbeitsplatzverlusten kommen. Es werden jedoch neue Wirtschaftsbereiche entstehen, die uns noch unbekannte zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen werden.

Auch die immer wieder auf Basis empirischer Untersuchungen geäußerte Sorge, dass die Erwerbstätigen mit den eintretenden Strukturveränderungen nicht oder nur schwer zurechtkommen und zu Verlierern des technologischen Wandels werden, ergibt nur vor dem Hintergrund eines lähmend langsamen Fortschritts Sinn, nicht aber bei einem dynamischen technologischen Wandel. Als zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders ungelernte Arbeitskräfte aus ganz Europa nach Deutschland geholt wurden, verstand es die Wirtschaft offenbar recht gut, diese so zu qualifizieren, dass sie ihren Job erfüllen konnten. Seit Jahrzehnten ist es – aufgrund der guten Beschäftigungslage der letzten Jahre vielleicht etwas abgemildert – eher so, dass sogar qualifizierte Arbeitnehmer, die ihren Job verlieren, oft keine adäquaten Jobangebote finden, in die sie sich hineinqualifizieren können. Es fehlen schlicht die Jobs. Viele landen daher zumindest vorübergehend in der Arbeitslosigkeit oder finden sich „eher hinter der Supermarktkasse wieder“, wie der Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum aufgrund der Analyse von Erwerbsverläufen ermittelt hat.

Die Idee, dass wir in den westlichen Gesellschaften oder gar in Deutschland Zeugen eines von beschleunigter Digitalisierung und Automatisierung getriebenen gesellschaftlichen Wandels sind, ist eine Chimäre. Die diskutierten und tatsächlich erkennbaren negativen sozialen „Begleiterscheinungen“, wie die seit Anfang der 1990er Jahre allgemeine Stagnation der Reallöhne, die Erzeugung von wirtschaftlichen Verlierern und die realen Ängste vor sozialem Abstieg sind die Folgen einer viel zu geringen Innovationsdynamik. Es ist daher sinnlos, innovative Technologien bereits in Frage zu stellen, bevor sie ihre gesellschaftliche Wirkung überhaupt in vollem Umfang entfalten konnten. Wir sollten uns vielmehr darum kümmern, die Innovations- und Wachstumsbremsen innerhalb der Gesellschaft zu lösen. Anfangen können wir damit, indem wir uns menschengemachten Fortschritt überhaupt wieder zutrauen und gleichzeitig die demokratische Kontrolle über ihn zurückerkämpfen.

Der Text ist zuerst in der aktuellen Printausgabe des Magazins Novo erschienen. Alle weiteren Teile der Serie finden Sie hier.

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