SozialesTagged , , ,

Grundrente, Solidarrente, Lebensleistungsrente: Die Begriffe wechseln, die Ambitionslosigkeit bleibt

Die Grundrente zeige, dass die SPD in den Koalitionsverhandlungen „gerade im Bereich der sozialen Verbesserungen extrem viel durchgesetzt“ habe, sagt der Ex-SPD-Vorsitzende Martin Schulz. Dabei ist sie ein alter Hut, denn sie stand schon im letzten Koalitionsvertrag. Zukünftige Grundrentenbezieher, die entsprechend schwache Erwerbsverläufe haben, degradiert die wohlmeinende Sozialpolitik kurzerhand zu Opfern. Eine ambitionierte Sozialpolitik würde stattdessen fragen, wie die Zahl der Bedürftigen reduziert werden kann.

Eine Rentenaufstockung für alle, die während der meisten Zeit ihres Lebens berufstätig waren und dennoch von der Sozialhilfe leben müssten, ist in den letzten Jahren äußerst populär geworden. Schon vor dem Einstieg in die letzte Große Koalition hatte die SPD im Jahr 2012 für ein Rentenkonzept mit Solidarrente geworben. Auch von der damaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wurde zur gleichen Zeit eine Zuschussrente in die Diskussion gebracht. Der gemeinsame Koalitionsvertrag der Großen Koalition 2013 sah dann die Einführung einer Lebensleistungsrente vor, die allerdings gegen Ende der Legislaturperiode am aufkommenden Bundestagswahlkampf scheiterte. Den gleichen Ansatz verfolgen auch die Grünen mit der „steuerfinanzierten Garantierente“ und die Linke mit der „solidarischen Mindestrente“ – allerdings versprechen sie deutlich höhere Leistungen als der GroKo-Entwurf.

Die Grundrente soll nun denjenigen zugutekommen, die einschließlich Kindererziehungs- und Pflegezeiten mindestens 35 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt haben und dennoch keine Rente oberhalb der Mindestsicherung der Sozialhilfe erhalten würden. Zehn Prozent ihrer selbst erworbenen Rentenansprüche sollen sie zukünftig behalten dürfen. Damit wollen CDU/CSU und SPD die persönliche Lebensleistung honorieren und zudem dem erwarteten Anstieg der Altersarmut Paroli bieten.

Zugespitzt formuliert ist die Grundrente der Versuch, ein soziales Problem mit Geld zuzuschütten und zu entsorgen, anstatt darüber zu diskutieren, wie dessen Ursachen anzugehen wären.

Zwar wird die Einführung dieser zusätzlichen Sozialleistung den Betroffenen eine materielle Verbesserung bringen, am Ende leistet die Politik den Begünstigten aber einen Bärendienst. Die Grundrente setzt nämlich nur an den Folgen an, die die Erwerbsmuster der Betroffenen mit sich bringen. Dass sich niedrige Löhne und Unterbeschäftigung wie ein roter Faden durch das Leben der Betroffenen ziehen und Renten auf Bedürftigkeitsniveau die zwangsläufige Folge sind, wird praktisch ausgeblendet. Anstatt zu fragen, wie dieses Phänomen zu verhindern wäre, scheint die Politik dies als quasi-naturgegebenen Zustand hinzunehmen. Es geht nur noch darum, die entstehenden individuellen Folgen sozialstaatlich zu verwalten. Zugespitzt formuliert ist die Grundrente der Versuch, ein soziales Problem mit Geld zuzuschütten und zu entsorgen, anstatt darüber zu diskutieren, wie dessen Ursachen anzugehen wären.

Seit der Agenda 2010 geht es in der Rentendiskussion ausschließlich um Verteilungsfragen und Zahlenspielereien. Aktuell verstärkt wird dieser Trend durch den hohen Steuerzuschuss und die sprudelnden Versicherungsbeiträge, die für eine randvolle Rentenkasse sorgen. Während die einen Beitragszahler, Wirtschaft und Steuerzahler entlasten wollen, sehen CDU/CSU und SPD die Gerechtigkeitslücke eher bei den Rentnern und gelegentlich auch bei den sozial besonders schwachen Rentnern. Dabei lässt sich vortrefflich darüber streiten, welche soziale Gruppe stärker benachteiligt ist. Denn neben Fragen des persönlichen Wohlstands rücken auch Gerechtigkeitsfragen in den Fokus, wie zum Beispiel die nach der Würdigung von Erziehungszeiten. Auch die Grundrente, bei der es um die Anerkennung der „Lebensleistung“ eines Menschen geht, fällt in diese Kategorie. Aus der reinen Bedürftigkeitsperspektive spricht aktuell wenig für die Grundrente, denn nur etwa drei Prozent der gegenwärtigen Rentenbezieher sind auf soziale Mindestsicherung, also Grundsicherung im Alter angewiesen. In der Gesamtbevölkerung lag der Anteil der auf soziale Mindestsicherung angewiesenen sozial Bedürftigen (u. a. Hartz IV) hingegen bei fast zehn Prozent im Jahr 2016, was einen viel dringenderen Handlungsbedarf nahelegen würde.

Es wird aber – wohl nicht zu Unrecht – befürchtet, dass die Anzahl der auf Grundsicherung angewiesenen Rentner steigen könnte, da in den letzten Jahrzehnten Teilzeit- und Unterbeschäftigung sowie Niedriglöhne zu einem Dauerphänomen geworden sind. Durch die engstirnige Begrenzung der Rentendiskussion auf Verteilungsfragen wird dieser gesellschaftliche Rahmen vollkommen ausgeblendet. So wird der kausale Zusammenhang zwischen niedrigen Renten und geringen Lohneinkommen zwar gesehen, aber nicht diskutiert. Daher erscheint die Grundrente als Lösung, obwohl sowohl für den einzelnen Rentenbezieher wie auch gesamtgesellschaftlich betrachtet die einzige Quelle einer guten materiellen Altersabsicherung in der Gestaltung einer möglichst produktiven Erwerbstätigkeit liegt.

Schon heute hat die Rentenversicherung in dieser Hinsicht ein gravierendes Problem. Bereits mit dem Beginn der Industrialisierung und nicht erst seit ein paar Jahrzehnten altert die deutsche Gesellschaft demographisch. Einerseits werden die Menschen immer älter, und andererseits sinkt die Geburtenrate. Es kommen also immer weniger Junge nach, die obendrein mehr Alte versorgen müssen. Gleichzeitig entlastet die Alterung aber auch die erwerbstätige Bevölkerung, weil die sinkende Anzahl an Nachkommen auch den Aufwand für Erziehung und Versorgung der sinkenden Zahl der Kinder reduziert. In Summe steigt die Belastung der Erwerbstätigen durch die demographische Alterung dennoch tendenziell an.

Die heutigen Rentner sind trotz dieser gesellschaftlichen Belastung, die sich durch die demographische Alterung ergibt, materiell besser versorgt als alle Generationen zuvor. Dies haben wir der kontinuierlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität in unserer Volkswirtschaft zu verdanken. In der Vergangenheit hat diese Steigerung den gesellschaftlichen Wohlstand etwa alle dreißig Jahre verdoppelt. Im Ergebnis war es dadurch möglich, die Älteren immer besser zu versorgen, den Jüngeren bessere Ausbildungen zu finanzieren und gleichzeitig den Wohlstand der Erwerbstätigen zu steigern. Seit Jahrzehnten jedoch erreicht die Steigerung der Arbeitsproduktivität in den entwickelten Volkswirtschaften, wie auch in Deutschland, wesentlich geringere Werte. Die Verdopplung des gesellschaftlichen Wohlstands gelingt unter Berücksichtigung der Produktivitätssteigerungen der letzten drei Jahrzehnte nun nur noch alle fünfzig bis achtzig Jahre. Die demographische Alterung kann also kaum mehr durch Produktivitätssteigerungen kompensiert werden, so dass sogar die Gefahr eines allgemein sinkenden Wohlstands besteht. Die gegenwärtig sprudelnden Einnahmen der Rentenkasse überdecken diesen Trend.

Die niedrigen Produktivitätssteigerungen wirken sich schon heute sehr direkt auf die Löhne und damit auf die Renten aus. Die Lohnabhängigen in den Krisenländern der Eurozone erfahren diesen Zusammenhang gegenwärtig auf besonders schmerzhafte Weise. Dort hat der durch die Finanzkrise ausgelöste ökonomische Einbruch die niedrige Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft bloßgelegt. Da die krisengebeutelten Volkswirtschaften nicht in der Lage sind, die notwendigen Produktivitätssteigerungen durch massive Investitionen zu erreichen, wird versucht, die Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnanpassung durchzusetzen. Auch in Deutschland lässt sich die äußerst schwache Entwicklung der Reallöhne mit der schwachen Arbeitsproduktivitätssteigerung erklären.

Der einzige wirksame Schutz vor Altersarmut und allgemein dürftigen Renten liegt daher in einer prosperierenden Wirtschaft, die nicht nur genügend, sondern auch erstklassig entlohnte Jobs bietet.

Die schlaffe Lohnentwicklung wirkt sich beim Einzelnen ungünstig auf den Rentenanspruch im Alter aus. Unmittelbarer sind jedoch die Auswirkungen stagnierender Reallöhne auf die heutige Rentnergeneration. Sie erreichen aufgrund der Rentenformel kaum Verbesserungen, und der Demographiefaktor in der Rentenformel sorgt zurzeit im langjährigen Durchschnitt sogar für real sinkende Renten. Dass nun in den Koalitionsvereinbarungen eine Haltelinie beim Rentenniveau eingezogen wurde, suggeriert daher bei den Renten eine tatsächlich nicht vorhandene Sicherheit. Im Wesentlichen bedeutet diese Entscheidung nur, dass der Demographiefaktor außer Kraft gesetzt wird. Die Renten steigen und fallen nun wieder proportional mit den Löhnen. Somit schlagen auch zukünftig sinkende Reallöhne voll auf die Renten durch. Die Haltlinie schützt also keinen Rentner vor einem sinkenden Lebensstandard. Der einzige wirksame Schutz vor Altersarmut und allgemein dürftigen Renten liegt daher in einer prosperierenden Wirtschaft, die nicht nur genügend, sondern auch erstklassig entlohnte Jobs bietet.

Die auf Verteilungsfragen und den Rechenschieber reduzierte Rentendiskussion ist ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass sich die politischen Parteien mit einer nur noch sehr limitierten Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands abgefunden haben. Eine ambitioniertere Perspektive, die auf Veränderung dieser bedrückenden Entwicklung abzielt, steht momentan nicht zur Diskussion, denn es gibt aktuell keine politische Kraft, die sich dieses Ziel ernsthaft auf die Fahnen geschrieben hat.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich eine politische Kultur herausgebildet hat, in der die Menschen nicht mehr als selbstbewusste Autoren ihre eigenen Geschicke, sondern in erster Linie als Opfer äußerer Umstände oder eigener Defizite gesehen werden. Politik und Staat sprechen die Bürger dementsprechend kaum noch mit Blick auf deren produktive und schöpferische Fähigkeiten an. Im Zentrum steht der Bürger heute eher als Konsument, dessen Konsumverhalten es zugunsten von Umwelt, Natur und Tier oder zu seinem eigenen Besten zu lenken gilt. Zudem erscheint er in diesem Kontext zunehmend als Opfer profitgieriger Unternehmen oder seiner eigenen Unzulänglichkeiten, vor denen ihn der Staat zu schützen hat. In der Sozialpolitik gilt der Bürger vor allem als Opfer des marktwirtschaftlichen Systems.

Die Grundrente passt in dieses Muster, denn sie adressiert die Leistungsempfänger als Opfer- und Anspruchsgruppe, deren Lebensleistung es durch bescheidene Sozialleistungen zu „würdigen“ gilt. Diese Perspektive stößt auf breite Zustimmung in der Gesellschaft. Sie wurde in der Rentendebatte auch bereits an einigen anderen Opfer-Anspruchsgruppen durchexerziert. Da sind die Tüchtigen, die sich mehr als 45 Jahre für Betrieb und Gesellschaft aufgeopfert haben und daher mit 63 abschlagsfrei in die Rente gehen dürfen, die Mütter, die in dieser Rolle gesellschaftliche Opfer bringen, und nun die Niedrigverdiener als neuste Opfergruppe. Die Grundrente stößt zwar auf viel Sympathie und Zustimmung, und sie zu kritisieren lässt einen schnell als schlechten und kaltherzigen Menschen dastehen. Debatten über die Ursachen der Niedriglöhne und darüber, wie man sie beseitigen kann, werden von den politischen Eliten hingegen kaum noch geführt. So zementiert die Grundrente jene missliche soziale Lage, in der sich die gesellschaftlich Schwächsten während ihres gesamten Lebens befinden. Gute Sozialpolitik sieht anders aus.

Alexander Horn lebt und arbeitet als selbständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.

Keinen Ökonomen-Blog-Post mehr verpassen? Folgen Sie uns auf Facebook, Instagram und Twitter, und abonnieren Sie unseren WhatsApp-Nachrichtenkanal, RSS-Feed oder einen unserer Newsletter.