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Die große Hoffnung Europa

Von der Europäischen Union und Europa ist viel die Rede. Meistens aber nur vom Westen dieses Kontinents. Und meistens auch nur in Worthülsen. Navid Kermani hat auf seinen Reisen das östliche Europa inspiziert und ist auf eine traurige Vielfalt von Armut, Gewalt und Vernachlässigung gestoßen. Gerade im Osten wird deutlich, dass die Menschen – anders als die Westeuropäer – alle ihre Hoffnungen auf eins setzten: auf ein wirklich gemeinsames Europa. Navid Kermani: Entlang den Gräben – eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, Beck-Verlag, München 2018.

Es ist ein Blick auf Europa, den die westlich saturierte europäische Welt wohl kaum kennt: „Selbst an einem Tag ist das Schreckliche, das Schöne, das Hoffnungsvolle und das Illusionslose ganz eng beieinander“, sagt Navid Kermani über seine Begegnungen mit den Menschen auf seinen Reisen durch Osteuropa. Kermani nimmt seine Leser in seinem nun erschienenen Reisetagebuch „Entlang den Gräben“ mit nach Polen, Litauen und Weißrussland, in die Ukraine, nach Georgien, Aserbaidschan, Armenien und in den Iran. Das Buch, das sich aus mehreren Reisereportagen zusammensetzt, die der Autor zwischen September 2016 und August 2017 für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ unternommen hat, schildert eindrucksvoll den dramatischen sozialen und politischen Bruch, der durch Europa geht. Er zeigt aber auch das Potenzial, das in diesem Kontinent steckt und das bei den meisten Bürgern und vielleicht auch Entscheidern im Westen Europas wohl kaum Beachtung findet. Und dass meistens auch nur sprachlos macht, wenn es dann doch mal wahrgenommen wird.

Navid Kermani ist Schriftsteller, Publizist und habilitierter Orientalist. Der bereits vielfach mit Kultur- und Literaturpreisen Ausgezeichnete erhielt vor drei Jahren einen der renommiertesten Preise, der in der Bundesrepublik vergeben wird: den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Als vierter Sohn iranischer Eltern 1967 in Siegen geboren, ist er heute nicht nur überzeugter Kölner (seine aktuelle Wahlheimat), sondern vor allem auch überzeugter Europäer.

(Zeit-)Reise ins Herz der Finsternis
In seinem Buch führen ihn seine Reisen zunächst ganz real entlang von Gräben früherer und noch aktueller Kriege – also vor allem auch an Gräbern, an Massengräbern und Kriegsfriedhöfen vorbei. Gerade in Weißrussland und der Ukraine sind die Straßen gesäumt von zahllosen Friedhöfen. Und dort, wo die Dörfer ausgebrannt sind, befinden sich Denkmäler – ohne Friedhof.  Als „Bloodlands“ hat der US-Historiker Timothy Snyder die vom Krieg zerstörte Region zwischen Polen und der Ukraine bezeichnet: Zwischen 1930 bis 1945 kamen hier vierzehn Millionen Zivilisten durch die Verbrechen von Sowjets und  Nationalsozialisten um.

Auch die Region um Tschernobyl, ein Gebiet, in dem ein Fünftel von Weißrussland immer noch kontaminiert ist, offenbart sich nach wie vor als Trauerspiel. Und gerade an diesen Orten der Verwahrlosung zeigen sich die „geistigen Gräben“, die Ost- und Westeuropa immer noch radikal trennen und Menschen auf beiden Seiten in so unterschiedlichen Welten und mit viel Unverständnis füreinander parallel existieren lassen.

Ohne Anklage und den Zeigefinger der Moral gelingt es Kermani, diesen Kontrast vor Augen zu führen. Ganz offensichtlich ist in den östlichen Ländern Europas die Geschichte der Kriege und Katastrophen allgegenwärtig. Das zeigt sich sowohl im traurigen Verfall ganzer Landstriche als auch in der schonungslosen Protzigkeit seltsam errungener Siege: So verdrängen in Grosny geschmacklose Großkotzgebäude das Elend, das die Stadt nach den beiden Russland-Kriegen zu einer der bekanntesten der Welt gemacht hat. Und auch dass im Kaukasus immer noch gekämpft wird, ist den meisten von uns Lesern nicht unbedingt gegenwärtig.

Kermani urteilt und verurteilt nicht – weder in Auschwitz noch in Litauen mit seiner komplexen litauischen, russischen und jiddischen Geschichte. Er beobachtet, fragt und notiert. Und das macht die Lektüre so lebendig. In den Begegnungen mit Intellektuellen und ganz normalen Menschen auf seinen Reisen wird aber überdeutlich, dass diese eine große Hoffnung in sich tragen. Und diese Hoffnung heißt Europa. Es ist eine Vision von Europa, in dem das „friedliche Nebeneinander von Unterschieden gelingt“ und in dem „Vielfalt ausgehalten werden kann“. Und ausgehalten werden muss.

Fazit:
Navid Kermani unternimmt eine Reise durch das 20. Jahrhundert und seine Traumata, die bis heute wirken. Wer mit dem Blick nach Westeuropa und  -deutschland aufgewachsen ist, wird trotz aller Nachrichtentransparenz auch heute vom Leben, Arbeiten und Sterben in Ländern wie Polen, Russland, Weißrussland oder der Ukraine nur wenig wissen. „Mit diesen Ländern sind wir nicht mental aufgewachsen, und damit haben wir den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, speziell den Völkermord an den Juden, aus unserem topografischen Bewusstsein getilgt“, sagt der Autor. Recht hat er. Wer auch nur ein Stück von dem begreifen will, was Europas Osten heute ausmacht, sollte dringend dieses Buch lesen.

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