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Der gute Onkel aus Amerika

Al Gore: Die ZukunftAl Gore: Die Zukunft – sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014, Siedler Was ein Glück – es ist kein Kompendium der Besserwisserei geworden. Dennoch wirkt das 600-Seiten-Werk von Al Gore, Ex-Vize-US-Präsident und Friedensnobelpreisträger, wie das Super-Manifest eines Weltverbesserers. Dass er mit unbequemen Wahrheiten rausrücken kann, zeigte Gore bereits in seiner Oscarprämierten Umweltschutz-Dokumentation von 2007. Sein aktuelles Mammutwerk ist ein ebenso US-kritisches wie patriotisches Buch geworden.

Zu verdanken hat Al Gore sein neuestes Printprodukt einer Zwischenfrage: „Was treibt den Wandel voran?“ fragte ein Besucher den Ex-US-Vize-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger bei einem seiner Vorträge. Gore zählte nach kurzem Überlegen die üblichen Antworten auf. Doch auch am nächsten Tag und die Jahre danach, ließ ihn die Frage nicht los – er suchte nach einer noch besseren Antwort. Entstanden und erschienen ist nun ein 600-Seiten-Mammut-Werk über die sechs wichtigsten Triebkräfte des globalen Wandels. Dazu gehören 1. die vernetzte Weltwirtschaft, 2. das Kommunikationsnetz, 3. die neue Balance wirtschaftlicher, politischer und militärischer Macht in der Welt, 4. das Zusammenspiel von rasantem Bevölkerungswachstum, Ressourcenendlichkeit und Umweltverschmutzung, 5. die revolutionären Entwicklungen in der Biologie, Biochemie und Genetik und 6. eine neue Beziehung zwischen der menschlichen Zivilisation und dem Ökosystem.

Politik soll sich vom Geld nicht blenden lassen

Gores Buch will keine neue Bibel für künftige politische Kampagnen der Demokraten sein. Seine fleißige und mit wertvollen Informationen gespickte Abhandlung ist auch keine Verteidigungsschrift amerikanischen Wirkens – im Gegenteil. Gore geht hart mit der Politik seiner Landsleute ins Gericht: „Der Niedergang des politischen System der USA sorgt gegenwärtig für ein gefährliches Defizit bei der Regierungsführung im Weltsystem und für eine Handlungslücke bei den Problemen, die gelöst werden müssen.“ Er fordert US-Amerika auf, für die Suche nach Lösungen Verantwortung zu übernehmen. Geht es nach dem Autor, bleibt den USA auch gar nichts anderes übrig, als zu handeln. Denn für Gores sind die Vereinigten Staaten überhaupt das einzige Land, „das die notwendige weltweite Führungsrolle“ für die Veränderungen übernehmen kann – so viel Patriotismus muss wohl sein.

Dass zurzeit ein gewisser „Niedergang des amerikanischen Engagements für eine Zukunft, in der die Menschenwürde geschätzt und menschliche Werte geschützt werden“, zu beobachten ist, liegt für Gore vor allem an den Amerikanern selbst. Seine Forderung an die US-Politik: „Die Rolle des Geldes in der Politik muss beschränkt und veraltete, nebulöse Bestimmungen müssen reformiert werden, die es einer kleinen Minderheit gestatten, den Gesetzgebungsvorgang in den US-Senat aufzuhalten.“

Großunternehmen leugnen Klimawandel

Die große Bedrohung der Menschheit ist für Gore die Klimakrise – vor allem das hartnäckige Leugnen des Klimawandels und die „Verleugnungs-Maschinerie“ mancher Lobbyisten und amerikanischer Großunternehmen, klagt er an. „Der politischen Angriff auf die Klimaforscher verfolgt nicht nur das Ziel, sie zu dämonisieren, er soll sie auch einschüchtern – mit der Folge, dass die gewohnheitsmäßig einem vorsichtigen Ansatz verpflichteten Wissenschaftler nur noch vorsichtiger agieren.“ Von den USA, die zu den größten Luftverpestern überhaupt zählen, verlangt er, die „Emissionen nicht nur ein bisschen, sondern ganz herunterzufahren“ – und zwar (zumindest vorrübergehend) durch die volle Erschließung und Förderung der Schiefergasvorkommen.

BIP darf nicht mehr einziger Kompass zur Messung der Wirtschaft sein

Dass der Autor im letzten Teil seines Werkes in geradezu wildem Galopp auf nur wenigen Zeilen zum Protest gegen allerlei Welten-Ungemach aufruft, wirkt ein wenig hastig, scheint aber der Tatsache geschuldet, dass hier eben auch ein Ex-Politiker schreibt. So hält Gore die Orientierung am Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Kompass für wirtschaftspolitische Entscheidungen für falsch. „Natürliche Ressourcen sollten zum Beispiel einer Wertminderung unterliegen, und die Verteilung von Einkommen sollte für uns ein Bewertungskriterium sein, wenn es um die Frage geht, ob die Wirtschaftspolitik erfolgreich ist oder scheitert.“

Um dem Bevölkerungswachstum Einhalt zu gebieten, fordert er vor allem für die Frauen in den Entwicklungsländern mehr Unterstützung in Beruf und Bildung. Die revolutionären Entwicklungen in den Biowissenschaften seien wünschenswert, bedürften aber auch stärkerer Kontrolle. Auch müsse der Kampf gegen die Entwicklung todbringender Waffen, die Verwendung von Antibiotika zur Wachstumsförderung in der Tiermast und die Dominanz des Börsenhandels mithilfe von Supercomputern und Algorithmen intensiver aufgenommen werden.

Sein Appell zum Schluss: „Was wir am dringendsten brauchen, ist eine Veränderung in unserem Denken.“ Das „Weltgehirn“ müsse sich ändern. Was wie ein frommer Wunsch am Ende des Giganten-Essays klingt, ist für Gore eine ernst zu nehmende Möglichkeit. Denn trotz aller Risiken, die das Internet beispielsweise in punkto Sicherheit in sich birgt, ist er sich sicher: Die globale Vernetzung durch das Internet schafft zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Chance, sich miteinander offen und transparent „über die Herausforderungen austauschen zu können, denen wir gegenüberstehen – und über die Lösungen, die heute schon verfügbar sind“.