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Im Namen des Trottelbürgers

Alexander Neubacher: Total beschränkt – wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt, Deutsche Verlagsanstalt, München 2014 Alexander Neubacher: Total beschränkt – wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt, Deutsche Verlagsanstalt, München 2014 Deutsche sehnen sich eher nach Sicherheit als nach Selbstbestimmung – die Staatsgläubigkeit der Bevölkerung nimmt zu. Kein Wunder, dass diese Entwicklung immer mehr Kritiker auf den Plan ruft, die die vermeintliche Fürsorge des Staates durch immer neue Vorschriften als eine große Entmündigung des Bürgers zu entlarven versuchen. Welche Ausmaße die teils groteske staatliche Regelflut tatsächlich annimmt, zeigt überzeugend und witzig Alexander Neubacher in „Total beschränkt“.

246.944 Bundesvorschriften müssen die Deutschen befolgen. Ob beim Angeln, Baden, Staubsaugen oder im Straßenverkehr – der Staat weiß, was gut für uns ist. So scheint es. Das ist zum Teil ja auch nicht schlecht. Denn keine Gemeinschaft und kein Staat der Welt kommen ohne Verbote aus. Die Frage ist allerdings, warum es so viele sein müssen. Und warum es so viele nicht nachvollziehbare sein müssen. Mit viel Fleiß und noch mehr Gespür für das Groteske hat Alexander Neubacher in seinem neuen Buch „Total beschränkt – wie der Staat uns mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt“ die absurdesten Vorschriften der Bürokratie zusammengestellt. Er entlarvt Deutschland als eine gemaßregelte Republik, in der die Bürger vor lauter Verboten die Freiheit aus den Augen verlieren.

Verbote sprießen wie Knöterich an der Friedhofsmauer

Angefangen beim Sitzballverbot in Büros (Unfallschutzvorschrift Paragraf 4 Arbeitsschutzgesetz), dem Nachangelverbot und Lichtverschmutzungsverbot über das Uferbadeverbot und Plastiktütenverbot bis zum Wohnraumzweckentfremdungsverbot, Zirkustier- und Zooverbot – „die Verbote überwuchern unseren Alltag wie Knöterich die Friedhofsmauer“, kritisiert Neubacher. Deutschland als „Nannystaat“ und als „Kontrollstaat mit 1000 Augen“ ruhe auf den Säulen der Sicherheit, Enthaltsamkeit, Sittlichkeit und besonders der Kontrolle. Hinter der Regulierungswut steckt für den Autor ein pessimistisches Menschenbild, aus dem der Staat einen folgenschweren Schluss zieht: Er traut seinen „Trottelbürgern“ nichts zu – zumindest nichts Gutes.

Neubauer analysiert frisch und frech auf knapp 300 Seiten die Paragrafen und Verordnungen deutscher Bürokraten und legt einen wahren Schatz an Grotesken frei: Rosafarbene Parkscheiben sind verboten; Hunde müssen sich im Auto anschnallen, Katzen nicht; ein Ehemann hat in der Regel seinen Wohnort dort, wo sich seine Familie befindet – ein verschollener Ehemann hat seinen Wohnsitz bei seiner Ehefrau; neugebaute Straßen und Plätze müssen im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nach Frauen benannt werden, bis auf dem Stadtplan eine Quote von 50 Prozent erreicht ist; und schließlich der sprachliche Höhepunkt der bürokratischen Regel-Wut: BDGBIBBBMinBFAnO! Das ist die Abkürzung für die „Anordnung zur Durchführung des Bundesdisziplinargesetztes für Berufsbildung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“.

Mehr Komödianten-Stadel als freiheitlicher Rechtsstaat

Angesichts einer solchen Sammlung von Kuriosa wird auch dem letzten Leser gewahr, dass diese Verbotspalette eher zu einem Komödianten-Stadel als zum freiheitlichen Rechtsstaat passt. Doch was so spaßig klingt, meint der Autor sehr ernst: Politiker sollen Volksvertreter und nicht Volkserzieher sein. Da aber der Staat immer stärker in das Leben seiner Bürger hineinzuregieren scheint, mahnt Neubauer den Leser, sich der Errungenschaften von Aufklärung und bürgerlicher Gesellschaft wieder bewusst zu werden. „Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet. Freiheit bedeutet nicht, alles tun zu müssen, was der Gesellschaft nutzt“, schreibt der Autor. Kants Aufruf, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – scheint aktueller denn je.

Nudging statt Verbotspolitik

Auf Verbote ganz zu verzichten, ist allerdings auch keine Lösung. Neubacher schlägt deswegen das vieldiskutierte „Nudging“ vor: Durch „leichtes Anstupsen“ sollen Menschen dazu gebracht werden, die richtigen Entscheidungen zu treffen. „Nudging kann wirkungsvoller sein als eine harte Verbotspolitik“, meint Neubacher. Er beschreibt das Phänomen an einem Beispiel: In den USA sind Unternehmen dazu übergegangen, ihren Beschäftigten das Gehalt nicht mehr einmal im Monat auszubezahlen, sondern alle 14 Tage. In einigen Kalendermonaten gibt es dadurch nicht zwei, sondern drei Zahltage. Einige Beschäftigte legen diesen dritten Scheck für die Altersvorsorge zurück und gehen dadurch insgesamt sparsamer mit ihrem Geld um.

Neubachers Fazit für Deutschland: „Wir sind nicht die Trottel, für die uns die Bürokraten halten. Wir werden zu solchen gemacht.“ Eine provokante These – und eine richtige.

Mein Fazit: ein lesenswertes Buch und das nicht nur wegen seines großen Unterhaltungsfaktors, sondern auch, weil es als Nachschlagewert für die unsinnigsten Vorschriften der Republik genutzt werden kann.