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Die Scheu vor der Verantwortung

Jährliches Aufkommen des Solidaritätszuschlag.Das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ kennen Sie sicher. In diesem in vielen Kulturen bekannten Sinnspruch steckt der Appell an die Eigenverantwortung, die Möglichkeit, Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu tragen.  Jeder Mensch ist für seine Lebensgestaltung zunächst und vor allem selbst verantwortlich.

Keiner Gemeinschaft tut es auf Dauer gut, wenn diese Eigenverantwortlichkeit nicht von der Mehrheit seiner Mitglieder gelebt wird. Keine Gesellschaft, kein Staat ist längerfristig überlebensfähig, wenn sich Menschen nicht mehr einmischen und die Verantwortlichkeit für ihr Lebensglück ablehnen. Passivität und blindes Vertrauen sind selten gut. Versprechungen und zusätzliche Leistungen müssen finanziert werden und das geschieht gut getarnt in Form von immer höheren Steuern und Sozialabgaben. Die Umverteilungsbürokratie wächst ins Maßlose und jeder Einzelne trägt immer höhere Lasten.

Niemand sollte die Intelligenz und Geduld der gesellschaftlichen Mitte unterschätzen. Irgendwann fühlt sich auch der gutwilligste Steuerpflichtige von staatlichen Wegelagerern umzingelt, die ihn auspressen, um andere, die es – vermeintlich oder tatsächlich – an eigenem Engagement fehlen lassen, zu alimentieren.

Aktuelles Beispiel aus der steuerpolitischen Diskussion dieser Republik: Bund und Länder wollen den Solidaritätszuschlag über 2019 hinaus beibehalten. Ein Wortbruch der Politik, die bei der Einführung versprochen hatte, ihn als zeitlich befristete Abgabe zur Finanzierung der deutschen Einheit zu erheben. Noch erschreckender als dieser Wortbruch ist für mich jedoch die Begründung: Eine Abschaffung des Soli entlaste vor allem die besserverdienenden Steuerzahler, die ihn bisher bezahlten. Wer keine Steuern bezahle, werde dann ja nicht entlastet. Und das sei ungerecht! So schizophren laufen inzwischen Steuerdebatten.

Die Übernahme von Verantwortung scheuen leider auch viele Akteure, die sich ansonsten als Befürworter unserer marktwirtschaftlichen Ordnung sehen. Gerade an den Finanzmärkten können wir das Auseinanderklaffen von Verantwortung und Haftung beobachten. Dort werden immer noch Risiken eingegangen, die im Fall eines Scheiterns nach wie vor auf die Steuerzahler abgewälzt werden. Dort wird immer noch „leveraging“ betrieben, als ob es 2008 keine globale Finanzmarktkrise gegeben hätte. Dort sind die Notenbanken in der Rolle des „lender of last resort“ verstrickt, indem sie schlechte Sicherheiten in ihre Bücher nehmen, um im Gegenzug neues Geld zum Nulltarif in die Märkte zu pumpen.

Und die Politik? Sie traut sich nicht an unpopuläre Reformen, mit denen sie den Bürgerinnern und Bürgern wegnehmen muss, was sie ihnen jahrzehntelang an staatlichen Leistungen vermeintlich mehr gegeben hat. Italien und Frankreich sind dafür schlechte europäische Beispiele, aber auch Japan mit seiner Unfähigkeit zu einschneidenden Strukturreformen.

In Deutschland gab es mit der Agenda 2010 vor einem Jahrzehnt eine seltene Sternstunde politischer Reformfreude. Doch die ist längst verblasst angesichts einer Großen Koalition, die das Renteneintrittsalter senkte und neue Sozialausgaben beschlossen hat, deren Rechnung erst nach den nächsten Bundestagswahlen präsentiert wird. Und wieder werden Millionen von Menschen, die das „Schmieden ihres Glückes“ abgetreten haben, diese Kosten tragen müssen. Höhere Steuern und Abgaben werden ihre Geldbörsen erleichtern.

Dabei bestünde in dieser Legislaturperiode tatsächlich die Chance, politische Verantwortung in die heute so intransparenten Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern zu implementieren. Die Länder (und ihre Gemeinden) sollten das Recht erhalten, selbst Zu- oder Abschläge auf die Einkommensteuer zu erheben. Der Vorschlag liegt auf dem Tisch. Doch die Länder wehren das Ansinnen ab. Sie wollen den Bürgern die Rechnung für neue Wohltaten nicht präsentieren. Sie scheuen, vor ihren Wählern auch die Kostenverantwortung zu übernehmen. Lieber holen sie sich das Geld beim Bund und kämpfen um die Einnahmen des Soli, die bisher allein dem Bund zustehen.

Jeder ist seines Glückes Schmied? Um mit Bert Brecht zu antworten: „Doch die Verhältnisse, die sind nicht so!“