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Deutschlands Blütezeit neigt sich dem Ende zu

Deutschland ist das demokratischste und gesündeste Land in Europa, meint Alain Minc. Das Buch des französischen Intellektuellen klingt wie eine Liebeserklärung an die heutige Bundesrepublik – bewundernd, fast überschwänglich. Und doch auch kritisch. Denn Deutschland hat Probleme: Mit seiner Demografie, Energiepolitik, Produktivität und vor allem mit seiner Rolle in Europa. Minc wünscht sich ein Europa, in dem das tendenziell „pazifistische Deutschland“ seine Führungsrolle nicht nur wirtschaftlich, sondern endlich auch politisch akzeptieren soll. Und Frankreich damit entlasten.

Alain Minc: Vive l’Allemagne – was Deutschland alles richtig macht und was nicht, Herder, Freiburg 2014 Selten hat sich wohl ein Autor aus dem Ausland in den vergangenen fünf Jahren so überschwänglich über Deutschland geäußert wie der Franzose Alain Minc. Minc, 1949 als Sohn aus Polen emigrierter jüdischer Eltern in Paris geboren, ist Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe und war Berater des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Selbst für deutsche Ohren ist es erstaunlich, welche Hymne der Autor auf die erfolgreiche Geschichte der heutigen Bundesrepublik lobsingt. „Leben wie Gott in Deutschland“ heißt es dort angesichts der demokratischen und wirtschaftlichen Reife der Bundesrepublik. Das schmeichelt. Und doch mag man solch‘ Pathos nicht recht glauben. Tatsächlich steckt hinter der Charmeoffensive vor allem Mincs Wunsch – und wohl auch der intellektuellen Mehrheit der Franzosen –, Deutschland möge sich endlich auch zu einer politisch-strategischen Führungsmacht in Europa hochschwingen – und dadurch auch Frankreich in seinem weltpolitischen und militärischen Engagement besser unterstützen.

Deutsches Wirtschaftswunderland als Vorbild für Faulpelz Frankreich

Kurz und prägnant streift der Autor zunächst die deutsche Geschichte – angefangen beim Vertrag von Verdun im Jahr 843 über das „Heilig Römische Reich Deutscher Nation“ bis zu Bismarck, den 1. Weltkrieg und die Teilung Deutschland in Ost- und West . Mincs Absicht: Seine französischen Leser aus ihrer allgemeinen Unwissenheit über die Historie und kulturelle Identität Deutschlands zu befreien. Die Kenntnisse darüber sind in Frankreich erstaunlich schlecht – möglicherweise genauso mangelhaft wie das Wissen der Deutschen über die französische Geschichte. Die durchaus noch bestehenden Ängste vieler Franzosen vor einem übermächtigen Deutschland sind durchaus vorhanden. Nicht allerdings bei Minc. Und so wiederholt der Autor auch mehrmals, dass es nicht nur Merkel und Kohl, sondern bereits Adenauer darum ging, kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland zu schaffen. Deutschlands Demokratie, einst von den Amerikanern initiiert, sei heute die beste in Europa. Auch die Wirtschaft habe absolute Vorbildfunktion. Für den „Faulpelz Frankreich“, wie Minc sagt, sei Deutschland nicht nur der ökonomische Musterknabe Europas, sondern geradezu ein Wirtschafts-Wunderland.
Dennoch deckt Mink gravierende Mängel auf, die Deutschlands heutige Blütezeit schon bald zum Ende bringen werden: zunächst das schwache Bankensystem. Für den Autor gibt nur noch eine ernst zu nehmende Privatbank, die Deutsche Bank, bei der nur noch der Name deutsch sei. Eine weitere, die Commerzbank, befände sich im komaähnlichen Zustand und sei ständig auf der Suche nach frischem Kapital, um die neuen regulatorischen Ansätze zu erfüllen. Deutschland, so ist sich Minc sicher, wird um eine „brutale Umstrukturierung des Bankensektors nicht herumkommen“.

Deutschlands absurde Energiepolitik

Und auch wenn die Bundesrepublik zurzeit in der Riege der großen Volkswirtschaften überall den ersten Preis einheimst, sei Deutschland zum unaufhaltsamen Niedergang verdammt. Minc nennt vier Gründe:

  1. Als größten Schwachpunkt macht er Deutschlands demografische Entwicklung aus. Selbst wenn Deutsche immer früher ins Berufsleben einträten und immer später in den Ruhestand gingen, liefe die Soziale Marktwirtschaft in Gefahr, immer sozialer und immer weniger wirtschaftlich hinsichtlich Unternehmertum und Dynamik zu werden. Auch Zuwanderung lindere das Problem nicht. (Frankreich sei durch seine überdurchschnittliche Geburtenrate dagegen fein raus.)
  2. Die zweite Schwachstelle ist für Minc die „absurde Energiepolitik, die Deutschland unter dem ständigen Druck der Grünen und der öffentlichen Meinung“ verfolge. (Die in ihrer Kritik nicht unberechtigte, aber zynische Formulierung verschweigt, dass Frankreich nach wie vor auf Atomindustrie setzt und keine Lust hat, über die nächsten Generationen hinauszudenken.)
  3. Die dritte Schwäche stellt die Ausrichtung auf die Industrie dar. Die deutsche Industrie wird angesichts der Konkurrenz aus Asien kämpfen müssen, um ihre Position zu behalten. Sie wird die Preise senken und dadurch ihre Rentabilität belasten. (Vermutlich leider wahr.)
  4. Die vierte Schwäche betrifft die Produktivität. Das Jahrzehnt der konsequenten Sparmaßnahmen im Bereich Löhne, neige sich dem Ende zu. Gewerkschaften forderten nun zu Recht Lohnerhöhungen. (Auch hier dürfte Minc Recht behalten).

Deutschland muss lernen, mit seiner eigenen Stärke umzugehen

Übel nimmt der Autor Deutschland sein internationales politisches Engagement. Es sei eindeutig zu wenig. Es sei viel zu sehr von wirtschaftlichen Interessen bestimmt als von politischen. Beispiele: Deutschlands ambivalente Politik zu Syrien und China. Die deutsche Diplomatie, schreibt der Autor, sei das genaue Gegenteil der britischen und der französischen. Als alte Kolonialmächte versuchten diese beiden Länder ständig auf einem Niveau zu agieren, das ihre tatsächliche Bedeutung übersteige. Deutschland dagegen sei bemüht, seine realen Kapazitäten zu unterschreiten. Tatsächlich fordert er: Deutschland muss raus aus seiner selbstgewählten Komfortzone. Deutschlands Partner müssen das Land dazu drängen, sich selbst mehr zu akzeptieren und die Rechte und Pflichten anzunehmen, die mit Stärke einhergehen.

Fazit: Der „andere Blick“ auf Deutschland macht Spaß. Minck deckt Schwächen und Stärken auf, die einheimische Autoren wohl kaum so klar formulieren würden. Insgesamt eine kurzweilige Analyse des aktuellen, politischen und wirtschaftlichen Geschehens in Deutschland.

Alain Minc: Vive l’Allemagne – was Deutschland alles richtig macht und was nicht, Herder, Freiburg 2014

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