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Über eine Stammesgemeinschaft, die schnell die Hosen voll hat

Der Journalist Joris Luyendijk nimmt den Londoner Finanzdistrikt aufs Korn. In zahllosen Interviews mit Investmentbankern, Managern, Headhuntern und Programmierern versucht er zu ergründen, was wirklich zum großen Finanzcrash 2008 geführt hat. Sein Fazit: Weniger der Mensch und seine reine Gier sind schuld, sondern ein auf Profit orientiertes Finanzsystem, in dem nichts anderes herrschen als Druck, Angst, kurzfristiges Denken und Geltungsdrang.

Joris Luyendijk: Unter Bankern – eine Spezies wird besichtigt, Tropen / Klett-Cotta, Stuttgart 2015Dass die meisten Menschen keinen Einblick in die Finanzbranche haben, ist offensichtlich – und auch nicht verwunderlich. Dass aber selbst Top-Manager in Investmentbanken nichts von den Finanzprodukten und ihren Risiken verstanden hatten, die die Welt 2008 in eine der bisher größten Finanzkrisen geführt hat, ist ein absolutes Armutszeugnis für diese Branche. „Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise sagte ein Spitzenbanker voller Stolz zu mir“, zitiert Joris Luyendijk den ehemaligen englischen Schatzkanzler Alistair Darling, „dass sie gerade beschlossen hätten, keine Risiken mehr einzugehen, die sie nicht verstanden.“ Vorher war es also den Verantwortlichen schlichtweg egal, wie die Bank zu ihren Gewinnen gekommen war – Hauptsache das Ergebnis stimmte.

Zahlreiche Interviews hat der niederländische Wirtschaftsjournalist Luyendijk vor einigen Jahren im Auftrag des englischen „Guardian“ mit Bankangestellten aus dem Londoner Finanzdistrikt, der „City“, in der 40 Prozent der Investmentbanker außerhalb von Großbritannien geboren sind, geführt. Nun hat er diese Gespräche in seinem neuen Buch „Unter Bankern – eine Spezies wird besichtigt“ zusammengefasst. Das Ziel: den Ursachen der Finanzkrise auf die Spur zu kommen.

Händler und Zahlenhirnis abgeschottet in Silos

Schon die Financial-Times-Journalistin Gillian Tett hatte in ihrem Buch „Fool‘s Gold“ über die Erfinder und Entwickler der komplexen Finanzprodukte analysiert, die 2008 das Finanzsystem zum Absturz brachten. Tett zufolge krankten sowohl Investment- als auch Universalbanken daran, dass ihre Mitarbeiter in „Silos“ und auf „Inseln“ hockten, sodass Informationen nicht mehr zirkulierten. Luyendijks Gespräche mit Investmentbankern, Juristen, Mitarbeitern von Risikoabteilungen und Ratingagenturen, mit Research Analysten, Headhuntern, Kontrolleuren, Programmierern von Software für den Hochfrequenzhandel und mit „Nerds“ und „Quants“ (finanzmathematische Analysten) ergeben ein teils sehr menschliches teils aber auch erschreckend borniertes Bild, das Banker von sich selbst und vom Rest der Gesellschaft haben. Anders als Geraint Anderson, dem ehemaligen hochrangingen Investmentbanker und Kolumnisten, in seinem Buch „Cityboy“ geht es Luyendijk nicht um den voyeuristischen Blick auf Geld, Sex und Drogen im Herzen des Londoner Finanzdistrikts, sondern um das System aus Druck, Zielerfüllung und Selbstverantwortung, in denen Banker täglich arbeiten.

Luyendijk beschreibt die Welt der riesigen Handelssäle, in denen Händler wie Söldner in einem Nebel von finanzkomplexen Vorgängen und ohne jede Arbeitsplatzsicherheit überleben müssen. Im Grunde herrsche bei jedem „ein tiefsitzendes Misstrauen inmitten eines völlig amoralischen Fokus auf Gewinn“. Anders als bei einem „dreihundert Kilogramm schweren Gorilla, der sich einfach dahinsetzt, wo er will“, müsse sich ein Newcomer allein gegen alle durchboxen – ausgestattet einzig mit einem Computer, einem Telefon und einen Terminal mit Finanzdaten. Die Handlungsanweisung: „Man muss so viel wie möglich über die Bedürfnisse der Kunden in Erfahrung bringen. Die Produkte, die man sich ausdenkt, konkurrieren mit denen anderer Banken. Gleichzeitig dröhnt es in jedem einzelnen, dass man sein Budget schaffen muss, da sonst der Verlust des Bonus‘ oder des Arbeitsplatzes folgen kann.“

Blaupause für kurzfristiges Denken

Warum sollte ein Banker in einem solchen System aus Druck, Angst und Gewinnsucht seinen Arbeitgeber überhaupt als „seine Bank“ bezeichnen, fragt sich der Autor über das Verantwortungsbewusstsein der Händler. „Jederzeit konnte man gefeuert oder von der Konkurrenz abgeworben werden. Warum sollte man in einer solchen Atmosphäre als Risikomanager oder Compliance Office Alarm schlagen oder schlicht einmal Nein sagen?“ Und warum sollte man nicht auch einmal einen Kunden reinlegen, wenn man unter solchem Druck steht und weiß, dass man juristisch damit durchkommt? „Das ist die Blaupause für kurzfristiges Denken“, erklärt Luyendijk.

Es sei falsch von „den“ Banken zu sprechen. Dies impliziere, dass man es mit zusammenhängenden Organisationen zu tun habe, meint der Autor. In Wirklichkeit gebe es im Bankenuniversum eine Ansammlung von Individuen in Machtpositionen: „Jeder managt seine eigene Welt. Sie reden auch von meiner Welt oder bei manchen Banken von meiner Organisation. Man arbeitet nicht für eine Bank, sondern für eine bestimmte Person, die in ihrer Welt regiert.“

Dass in einer solchen egozentrischen Arbeitsatmosphäre auch Zynismus und Sarkasmus prima gedeihen, ist nachvollziehbar. Beispiele für kursierende Witze: „Was macht ein Banker bei Goldman Sachs mit fünf Millionen Dollar?“ Antwort: „Fragen, wo der Rest geblieben ist.“ Oder: „Was ist ein Ökonom?“ Antwort: „Jemand, der immer anderer Ansicht ist als ein anderer Ökonom.“ Sicherlich ist das Umfeld der Investmentbranche nicht weniger intelligent als andere Branchen, aber es ist eindeutig materialistischer und recht borniert. Luyendijk erklärt es so: „Mit all ihren ungeschriebenen Gesetzen, Tabus und inneren Hierarchien wirkt die Londoner City, der Finanzdistrikt, wie ein Dorf oder eine Stammesgemeinschaft.“

Was wäre, wenn es Lehman Sisters gewesen wäre?

Dass diese Stammesgemeinschaft durchaus geschockt war, als „Lehman Brothers“ im Herbst 2008 ihre Pleite verkündete, zeigen die Gespräche dieses Buches auch: Manche Händler riefen ihre Väter und Mütter an und forderten sie auf, sämtliches Guthaben abzuheben, Vorräte einzukaufen, Gold zu erwerben oder gar aufs Land zu ziehen. Wie weit die Welt tatsächlich 2008 am Abgrund stand, lässt sich aus solchen Anweisungen gut ablesen. Wie viel die Banker jedoch aus dem Desaster gelernt haben, ist fraglich. So erklärt der Investmentbanker Greg Smith sehr selbstkritisch, warum er Goldman Sachs verließ: „Vor Jahren haben wir Griechenland beraten, wie das Land mit Hilfe von Derivaten den wahren Umfang der eigenen Verschuldung verschleiern konnte. Jetzt war die Kacke am Dampfen und wir berieten Hedgefonds, wie sie vom Chaos Griechenlands profitieren konnten.“ Angesichts dieser korrupten und mehrheitlich männlichen Machenschaften zitiert Luyendijk nicht zuletzt IWF-Chefin Christine Lagarde, die darüber sinniert, ob möglicherweise nicht doch der oft kritischere Managementansatz von Frauen auch „Lehman Brothers“ gerettet hätte. Lagardes herrliches Bonmot von einst klingt heute wie eine Mahnung: „Was wäre, wenn es Lehman Sisters gewesen wäre?“

Fazit

Luyendijks Werk ist ein unterhaltsamer und aufregender Finanzschmöker. Die Hauptthese: Nicht vorwiegend Gier treibt die Mehrheit der Manager, sondern Existenzangst und Geltungsdrang. Nicht der Mensch ist also verkommen, sondern das System, in dem er arbeitet. Dieses System muss sich ändern – und zwar mit Hilfe der Politik, meint der Autor: „Das demokratische System ist und bleibt die beste Chance für einfache Bürger, die Macht im globalen Sektor auf friedliche Weise wiederzuerlangen.“

Joris Luyendijk: Unter Bankern – eine Spezies wird besichtigt, Tropen / Klett-Cotta, Stuttgart 2015

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