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Europas schlafende Seele wachküssen

Europa ist mehr als ein Verwaltungsakt, mehr als Brüssel, mehr als die Idee des Euros. Nur kaum einer nimmt das noch so wahr. Dass Europas Chance in seinem kulturellen Erbe liegt, kann auch kaum noch einer mehr hören – zu stark lastet die Schuldenkrise auf den Schultern aller. Aber was macht dann den alten Kontinent aus? Experten aus ganz Europa geben Antwort.

150820_Europa eine Seele gebenVom ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors stammt der Ausspruch, dass es notwendig sei, „Europa eine Seele zu geben“. Sonst sei „das Spiel vorbei“ – das Spiel namens Europa. Eindringliche Worte. So eindringlich, dass sie seitdem im Stammbuch der europäischen Länderfamilie stehen. Seit Delors‘ Mahnung versuchen jährlich bei verschiedenen Symposien und Konferenzen kluge Leute über die Frage, was denn die Seele Europas eigentlich ausmache, nachzudenken. Nele Hertling und Volker Hassemer haben als Herausgeber in ihrer Anthologie „Europa eine Seele geben“ nun verschiedene Kulturschaffende aus Europa versammelt, die wortreich, aber nicht in verschwommener Rhetorik, Europas Seele analysieren und den europäischen Integrationsprozess aktuell und kritisch hinterfragen. Die Kernthese: Das Zusammenwachsen Europas gelingt nur, wenn sich die Europäer auf die zentralen europäischen Werte wie „Solidarität“, „soziale Marktwirtschaft“, „Gleichberechtigung“, „Rechtssicherheit“ und „Reisefreiheit“ besinnen.

Europa ist kein ökonomisches Zweckbündnis

Kritik hagelt es gleich von Erhard Busek, Vorstand des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa. Wir oder besser gesagt Wirtschaft und Politik verstünden heute das Zusammenwachsen Europas fast nur noch rein ökonomisch, erklärt er. Das jedoch sei ein eklatantes Missverständnis: „Jeder politisch historische Prozess bedarf der geistigen Auseinandersetzung, hat geistesgeschichtliche Motivation und letztlich auch für einen Christen eine prinzipielle Dimension der Wertvorstellung, die in einem neuen Europa verwirklicht werden“, schreibt Busek. Vor allem im Hinblick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik mangelt es sicherlich vielen Europäern an dem von Busek beschriebenen „Aspekt der Nächstenliebe und der Solidarität, der heute weitgehend in der Diskussion fehlt“. Eine gewisse Geschichtslosigkeit fördere diesen Mangel, „weil wir uns kaum jener Gemeinsamkeiten bewusst sind, die es schon gegeben hat“.

Auch die anderen Autoren sind sich sicher: Die europäische Integration mache die Bürger weder reicher noch friedlicher. Die jüngsten Entwicklungen zeigten, dass Frieden in Europa sehr stark mit der Haltung Europas gegenüber globalen Ereignisse und Verpflichtungen verbunden sei. Ebenso sei auch die europäische Wirtschaft eng mit Europas globaler Rolle verknüpft.

In Europa leben? Ja! Für Europa einstehen? Nun ja!? Die Haltung der Bürger zu ihrem Kontinent ist zwiespältig. Eine wichtige Ursache des fehlenden Europa-Bewusstseins sieht Andreas Bock, Mitglied der Strategiegruppe A Soul for Europe, in der Berichterstattung der Leitmedien. So würde das Megathema Eurokrise viel zu stark aus der jeweiligen nationalen Sichtweise kommentiert. Auch die Sprachenvielfalt erschwere, Massenmedien für alle Europäer finanziell nachhaltig aufzubauen. Hilfreich wären Kooperationen zwischen großen Medienverlagen unterschiedlicher Länder.

Die neue Renaissance des alten Kontinents

Europa braucht einen Wandel – da sind sich die Autoren einig. So macht der englische Germanist Ben Schofield darauf aufmerksam, dass Europa einst die Renaissance benötigte, um aus seinen mittelalterlichen Strukturen auszubrechen. Auch heute bedarf es möglichweise nichts anderem als einer „neuen Renaissance“. Die Revolution im Denken, die im 15. und 16. Jahrhundert entzündet wurde, fand zu einer Zeit statt, als Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft die bestehenden Ordnungen durcheinanderwirbelten und den Grundstock für das gegenwärtige Zeitalter der Wissensgesellschaft legten. Weniger eine Renaissance des Denkens, aber wohl eine Stärkung des Bewusstsein der Werte, die das moderne Europa ausmachen – Werte wie Freiheit, Solidarität, soziale Marktwirtschaft, Gleichberechtigung und Rechtssicherheit – sei heute vonnöten. „Die Kultur besitzt ein großes Potenzial, um den sozialen Wandel zu unterstützen“, erklärt die Direktorin der AltArt-Foundation Rarita Zbranca. Falsch sei es jedoch, wenn die Politik die Kultur für das ehrgeizige Ziel eines nachhaltig wirtschaftlichen Wachstums instrumentalisiere. Das führe nicht zum Ziel und schwäche einzig die Kultur.

Europas Bürger als Schlüssel zum Erfolg

„Europas Vision war es, ein attraktiver Ort zu werden, an dem man gerne lebt“, meint Mahir Namur, Präsident der European Cultural Association. Im Zentrum habe früher die Humanität gestanden. „Heute scheint es so, dass die Wirtschaft den Vorrang genießt“, meint Namur. Der Schlüssel für den Erfolg des europäischen Integrationsprozesses liege letztlich bei den Bürgern: „Den bestehenden Wohlstand zu teilen, kann die Menschen nur kurzfristig verbinden, bis die Ressourcen erschöpft sind, während kollektive Anstrengungen, die man auf ein gemeinsames Ziel verwendet, ein Team stark machen“, schreibt Namur. Die Bürger müssten deswegen eingeladen werden – und das ist eine Aufgabe der Politik –, ihren Teil beizutragen und darüber hinaus Verantwortung für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft zu übernehmen.

Fazit

Ein kritisches Europa-Buch mal nicht geschrieben von der üblichen Euro-Prominenz, sondern von klugen Europäern aus dem kulturellen Leben – ein Buch von Autoren, die Europas kulturelles Erbe zum einen der Gefahr ausgesetzt sehen, von Politik und Wirtschaft für die Idee eines rein wirtschaftlichen getriebenen Europas missbraucht zu werden. Zum andern setzen die Autoren gerade auf die Kultur, um ein stärkeres gemeinsames Europa-Empfinden entstehen zu lassen; ein Buch mit lesenswerten Impulsen.

Nele Hertling / Volker Hassemer: Europa eine Seele geben, Europa Verlag Berlin, Berlin 2014

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