Buchkritik, SozialesTagged

Der Kämpfer für Empathie

Die Angst geht um – Angst vor Überfremdung, Angst vor finanzieller Überforderung, Angst vor islamischem Fundamentalismus, Angst vor Terror und auch Angst vor russischem oder chinesischem Kapital. Doch wer Angst hat, sollte sich zunächst einmal auf seine eigenen Stärken besinnen. Larry Siedentops neues Buch ist darauf eine Antwort: Wer sind wir Europäer, welche Werte machen uns aus und wohin geht unsere Reise. Als wichtigsten Bezugspunkt unserer kulturellen Kraft und gesellschaftlichen Stärke nennt er eine Größe, die für viele im Wettbewerb der Weltanschauungen keine allzu bedeutende Rolle mehr zu spielen scheint: das Christentum. Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015.

Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die west-liche Welt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015. Die Annahme, eine Gesellschaft könne sich über Nacht ändern, ist töricht. „Es kann Jahrhunderte dauern, bis tiefreichende moralische Wandlungen […] soziale Institutionen verändern“, schreibt Larry Siedentop in seinem neuen Buch „Die Erfindung des Individuums – der Liberalismus und die westliche Welt“. Um unserer europäischen Identität auf die Spur zu kommen, blickt er weit in die Geschichte zurück und analysiert pointiert die „Augenblicke“, in denen sich seiner Meinung nach die Überzeugungen der jeweiligen Gesellschaften veränderten und auf das soziale Verhalten der Menschen einwirkten. Es geht ihm um die Geschichte des „Individuums“, wie es „ihre charakteristische Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre vornahm und die Bedeutung von Gewissen und Entscheidung stärker in den Mittelpunkt rückte.“

Siedentops Grundüberzeugung ist: Die liberale säkulare Welt, in der wir heute leben, ist entscheidend vom christlichen Glauben beeinflusst. In seinem Buch beschreibt damit auch die Geschichte des Begriffes „Liberalismus“ der vergangenen zweitausend Jahre.

Der moralische Wert des Liberalismus‘

Als Motivation seiner 495-Seiten-Studie nennt der Autor zwei Gründe: Die aktuellen Vorstellungen vieler, den Liberalismus allein auf das Bekenntnis zu Marktwirtschaft oder auf die Befriedigung aktueller Wünsche und Präferenzen zu reduzieren, sind ihm zuwider. Zweitens sieht er eine regelrecht Gefahr darin, den Liberalismus ständig als Individualismus zu beschreiben, also „als Rückzug in die Privatsphäre der Familie und Freunde“. Dies ginge nur zulasten von Bürgersinn und politischer Teilhabe. „Das alles schwächt das soziale Interesse einer Gesellschaft“, meint der Autor. Der Liberalismus hat für ihn vor allem einen moralischen Wert: „das Ideal der Gegenseitigkeit zu leben, die Fähigkeit, uns selbst in anderen und andere in uns selbst zu sehen.“

So begutachtet Siedentop die Spuren liberalen Denkens beginnend in der prähistorischen Welt, über den antiken Kosmos, der paulinischen Lehre bis zu Augustinus, William von Ockham, das Mittelalter und weit hinter die Renaissance. Resultat: Nicht den Griechen, nicht den Römern, nicht der Aufklärung, nicht der amerikanische Verfassung oder der Französischen Revolution verdanken wir den Liberalismus: Für Siedentop ist Apostel Paulus der eigentliche Stifter des liberalen Gedankens. Als Verfechter der Gleichheit und Freiheit entstaubt Paulus den Begriff des Liberalismus‘ von seinen „aristokratischen Konnotationen“ aus der Antike und fokussiert sich auf die „Gleichheit der Seelen“ – für Siedentop ein Kern liberalen Denkens. Das ist starker Tobak – und dürfte so manche auf die Palme bringen, die daran erinnern, dass die Christianisierung des Abendlandes allen möglichen Motiven folgte – wohl aber nicht immer den Gedanken der Freiheit und Gleichheit.

Gleichheit steht über sozialen Regeln

Doch Siedentop ist kein blinder Provokateur, sondern ein „Interpret“. Für den amerikanisch-britischen Philosophen und Politikwissenschaftler gilt die Grundbotschaft der christlichen Religion: Im Christentum kann der Mensch in Freiheit glauben und handeln. Jeder kann sich als Christ bewähren – und dadurch sind gesellschaftliche Unterschiede nicht mehr relevant. Für Siedentop hat das Christentum mehr als jeder andere Einflussfaktor die Grundlage menschlicher Identität verändert. Nämlich: Durch die Betonung der moralischen Gleichheit der Menschen unabhängig von allen sozialen Rollen, die sie bekleideten, veränderte das Christentum die Grundvoraussetzungen. Soziale Regeln wurden sekundär. Sie ergaben sich aus der gottgegebenen menschlichen Identität, die allen Menschen gemeinsam war. Aus diesen christlichen Wurzeln, meint der Autor, sei letztlich der europäische Liberalismus entstanden.

Zweifellos sei der Liberalismus ein „uneheliches Kind“ der Kirche, meint Siedentop: „Er war kein Projekt der Kirche“. Als politische Theorie sei er sogar gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Kirche und lange Zeit auch der meisten protestantischen Kirchen entwickelt worden. Seine Entstehung verdanke er einem „Bürgerkrieg“ im frühneuzeitlichen Europa, also „einem Krieg, in dem liberale moralische Vorstellungen, die auf dem Boden christlichen Denkens gewachsen waren, immer häufiger gegen die Versuche, den Glauben gewaltsam durchzusetzen, ins Feld geführt wurden“.

Fazit

In Zeiten, in denen die Kirche mit Mitgliederschwund zu kämpfen hat und sich davon wohl absehbar nicht erholen wird, kommt Siedentops These vom Christentum als Brutstätte des liberalen Denkens vielleicht gerade recht. Dass der Autor – gebildet und belesen wie er zweifellos ist – ein wenig pauschalisiert und manche historische Strömungen ignoriert, ist ihm bewusst. Denn sein Buch ist, wie er selbst bekennt, kein Produkt systematischer Gelehrsamkeit. Sondern es ist Interpretation. Trotz aller Subjektivität bleibt seine Studie dennoch ein Muss für jeden, der sich mit Europas Werten beschäftigt und sich für die Strömungen liberalen Denkens interessiert.

Keinen Ökonomen-Blog-Post mehr verpassen? Folgen Sie uns auf Facebook und Twitter, abonnieren Sie unseren RSS-Feed oder unseren Newsletter.