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Rechtsbruch? Warum wir die Auslegung von Verfassungsnormen, Gesetzen und Verträgen nicht den Demagogen überlassen sollten

Hinter der neu entdeckten Liebe zu Recht und Gesetz verbirgt sich in vielen Fällen nur eine weitere gefährliche Eskalationsstufe der Rhetorik. Dabei ist die aktuelle Lage schwierig genug, wir sollten sie nicht noch durch Verleumdung erschweren.

In letzter Zeit ist arg häufig von „Rechtsbruch“ die Rede. Nicht nur in den sozialen Medien, den in jeder Hinsicht entgrenzten Stammtischen des Internetzeitalters, sondern auch in den guten alten Qualitätszeitungen hauen Politiker und andere Meinungsmacher vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Vorwurf um die Ohren. „Den Grundsatz ,Wir schaffen das‘ kann ich nicht durch eklatanten Rechtsbruch erreichen“, ließ sich kürzlich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in der Flüchtlingsfrage vernehmen. Stefan Aust, Chefredakteur und Herausgeber der Zeitung „Die Welt“, kommentierte gar: „Egal, ob Euro-Krise oder Flüchtlingsfrage: Die Politik wischt geltende Verträge und Gesetze einfach vom Tisch.“ Diese so leicht wie reißerisch dahingeworfenen Befunde sind nur zwei von mittlerweile zahllosen Beispielen in einem zunehmend hysterisch, unseriös und bisweilen albern geführten Diskurs über eine ernste politische Aufgabe von allergrößter Tragweite.

Die Bundesregierung, ein Kränzchen von Verbrechern? Das ist Unfug. Hinter der neu entdeckten Liebe zu Recht und Gesetz verbirgt sich in vielen Fällen nur eine weitere gefährliche Eskalationsstufe der Rhetorik, Ergebnis einer Lust am Zündeln und einer in populistischen Kreisen gepflegten verbalen Aufpeitschung. „Rechtsbruch“ ist zu einer Art Codewort der Reaktionäre geworden, zusammen mit „Wahn“, „Betrug“, „Lüge“, „System“ und noch vielen anderen. Korrekterweise spricht man davon, dass eine Maßnahme möglicherweise gegen geltendes Recht verstößt; wenn sie dieses bräche, wäre es irreparabel zerstört. Dieses dramatische Bild der totalen Zerstörung eignet sich indes besser für alle, die sich in der Beschwörung des Unterganges des Abendlandes ergehen.

Ein aktueller Tiefpunkt der Debatte in diesem Zusammenhang ist die verzerrte, unvollständige und damit so falsche wie böse Behauptung der AfD-Chefin Frauke Petry, es stehe im Gesetz, dass Polizisten illegale Grenzübertritte notfalls mit Gebrauch der Schusswaffe verhindern müssten. Ein zweifelhaftes Rechtsverständnis legt auch das bloggende FDP-Mitglied Frank Schäffler mit der Bemerkung an den Tag, wer bezweifle, dass es gerecht wäre, wenn das Einkommen am 31. Dezember nicht anders als jenseits des Stichtags am 1. Januar besteuert würde, leiste „Beihilfe zum heimlichen Diebstahl“. Zweifel als Straftatbestand – das ist nicht nur Unsinn, sondern auch inkonsistent bei einem, der sonst im Konzert mit seinen Freunden von der „Achse des Guten“ und „Tichys Einblick“ lauthals gegen die „Gesinnungspolizisten“ polemisiert, die uns angeblich umzingeln.

Man muss im Übrigen kein Etatist sein, um zu erkennen, dass es der Würde und dem Respekt von Verfassungsnormen, Gesetzen und internationalen Verträgen überaus abträglich ist, wenn diese derart dazu missbraucht werden, im Tagesgeschäft politische Einwände – und seien diese noch so gut begründet – als unhintergehbare Wahrheiten zu verkaufen. Politische Einwände sind auch in der politischen Arena zu verhandeln; das Recht ist nicht dazu da, im politischen Interessenausgleich zu vermitteln. Es war deshalb höchste Zeit, dass Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) klarstellte: „Solche Vorwürfe sind nicht nur falsch, sie fügen auch der politischen Kultur und dem Recht schweren Schaden zu.“  Er hat vollkommen recht.

Natürlich kann es geschehen, dass eine Regierung mit einer Maßnahme gegen Verfassungsnormen verstößt oder eine Normenkollision auf einfachgesetzlicher Ebene verursacht. Das ist leicht der Fall, wenn neue Materien durch neue Gesetze zu regeln sind. Auf allfällige Kollisionen erkennen die höchsten Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht. Unzählige Male waren schon in der Vergangenheit dessen Abwägungen notwendig; Beispiele sind unter anderem die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensteuer oder zur Berechnung der Hartz-IV-Sätze. Bisher war es indes nicht üblich, den Mitgliedern einer Bundesregierung zu unterstellen, sie scherten sich nicht um die rechtlichen Vorgaben oder brächen sie gar mit voller Absicht. Das ist heutzutage, wo der rechte Rand zunehmend mit ehrabschneidenden Behauptungen operiert, leider ganz anders.

Die Bundeskanzlerin beteiligt sich an einem Verstoß gegen die europäischen Verträge, um den Euro – und mehr noch die Griechen – zu retten? Sie setzt das Dublin-Verfahren aus, bloß weil sie ihr Herz für Flüchtlinge entdeckt und darüber den politischen Verstand verloren hat? An solchen Sätzen ist alles indiskutabel. Nicht nur tut das Herz Merkels nichts zur Sache und ist ihr politischer Verstand noch lange nicht widerlegt. Im Zusammenhang mit der sogenannten Euro-Rettungspolitik sind vielmehr bisher alle Klagen weitestgehend erfolglos geblieben, der Verstoß gegen geltendes Recht ist also eine durch die Entscheidungspraxis widerlegte Behauptung, vom „Rechtsbruch“ ganz zu schweigen.

Wie der Saarbrücker Ökonom Olaf Sievert, ein früheres Mitglied des Sachverständigenrates und des Zentralbankrats, kürzlich in den „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“ herausgearbeitet hat, verbietet Artikel 125 AEUV zwar die Fremdhaftung, nicht aber die freiwillige Hilfe. Verbunden mit dem „Merkelschen Weg“, keine Hilfe ohne systemerhaltende Gegenleistung zu gewähren, entspreche die Griechenland-Unterstützung damit nicht nur dem Buchstaben, sondern gerade und vor allem auch dem Geist der Verträge. Es gibt sicher genug Gründe, warum man diesen Geist penibler verwirklicht sehen möchte – aber das bedarf dann nicht der scharfmacherischen Rechtsbruch-Rhetorik.

Ähnlich unsolide sind die aktuellen Behauptungen zur angeblichen Vertragswidrigkeit der deutschen Flüchtlingspolitik. Über das im Auftrag des Freistaats Bayern verfasste Gutachten Udo Di Fabios, des früheren Richters am zweiten Senat des Bundesverfassungsgericht, streiten sich noch die Gelehrten. Außerdem ist es viel komplexer, als dass man sein Ergebnis auf die schlichte Formel „Rechtsbruch“ bringen dürfte, wie es im rechtspopulistischen Lager gleich geschah – eine Vokabel, die der Verfasser selbst natürlich an keiner Stelle nutzt. Und schließlich kann ein Gutachten die gerichtliche Überprüfung nicht schon ersetzen, die sein Autor unter bestimmten Bedingungen, über deren Vorliegen man streiten kann, für sinnvoll und durchaus geboten hält.

In der Debatte tritt nicht zuletzt auch ein unangemessen statischer Blick auf das Recht zutage. Die Deutschen haben sich vielleicht zu sehr in der simplistischen, schon schlicht von der Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit gestützten Vorstellung geübt, dass sich schlechthin alles unter das ihnen 1949 geschenkte Grundgesetz subsumieren lasse, das es nur noch treulich anzuwenden gelte. Der sich entwickelnde Korpus des europäischen Rechts kann freilich nicht die logische Geschlossenheit des (übrigens durchaus keineswegs statischen) Grundgesetzes besitzen; er lebt und wächst, hat Lücken, Redundanzen und Spannungen. Auch daher ist es verfehlt, ständig „Rechtsbruch“ zu rufen. Die aktuelle Lage ist schwierig genug, wir sollten sie nicht noch durch Verleumdung erschweren.

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