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Wenn Gerechtigkeit zur Worthülse wird

Mehr und mehr greift die Ansicht um sich, dass nicht die Sicherung eines fairen und verlässlichen Rahmens, sondern eine über diese formale Definition hinausgehende Form von Gerechtigkeit primäres Ziel von Wirtschaftspolitik sei.  - Warum wir besser aufhören sollten, alles, was uns am Herzen liegt, irgendwie als gerecht darzustellen.

Sogar in solchen Politikbereichen wie der Verkehrspolitik, die man bislang nicht gerade als Hauptkampfplätze in Gerechtigkeitsfragen kannte, scheint es um wenig anderes zu gehen als Gerechtigkeit. Falls sich doch einmal Stichworte wie Maut, marode Brücken und viel zu schleppender Autobahnausbau auf der Tagesordnung finden lassen, dann deshalb, weil diese Themen, genau, eine Frage der Gerechtigkeit sind.

Gerechtigkeit ist ein politisches Allzweckargument geworden, neben dem andere Kategorien wie etwa Nützlichkeitserwägungen schäbig und unwichtig wirken. Man mag diese moralische Aufladung von Politik gutheißen oder kritisch sehen, im Falle der Gerechtigkeit stellt sie ganz unabhängig von der jeweiligen persönlichen Bewertung ein erhebliches Problem dar.

Das Problem besteht darin, dass völlig unklar ist, was unter Gerechtigkeit überhaupt verstanden werden soll und kann. Ist ein Mindestlohn gerecht? Ist Gleichbehandlung gerecht? Oder eher Ergebnisgleichheit? Und ist es gerecht, wenn der Staat sie herzustellen versucht? Oder ist es gerecht, wenn er die Menschen nach eigener Façon selig werden lässt? Diese und viele weitere Fragen kann man durchaus unterschiedlich beantworten. Für die einen besteht Gerechtigkeit in Steuersenkungen, für die anderen in Steuererhöhungen. Doch wie soll ein so unklares Ziel moralische oder politische Orientierung bieten?

Und tatsächlich tut Gerechtigkeit das auch nicht, sie gaukelt es uns nur vor. Im politischen Betrieb wie auch im ganz normalen Alltag wird sie sehr häufig nach Gutdünken benutzt, um die jeweils eigenen Präferenzen argumentativ zu unterfüttern und der eigenen Position eine Aura der moralischen Höherwertigkeit zu verleihen. Von der großartigen Idee allgemeiner und fairer Regeln, die Konflikte lösen und Lasten verteilen, bleibt nichts übrig außer einer Worthülse.

Das ist schade um die Gerechtigkeit, denn nicht ohne Grund stellt sie für viele Menschen einen wichtigen Wert dar. Es ist aber auch schade um den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, denn der wird – so paradox das klingen mag – durch das vorgebliche Streben nach Gerechtigkeit ausgehöhlt. Weil Gerechtigkeit allzu häufig zur moralischen Maskierung von Willkür und Partikularinteressen genutzt wird, führt ihre verbale Allgegenwart nicht zu mehr, sondern zu weniger tatsächlicher Gerechtigkeit.

Sowohl in eher politischen als auch in eher philosophischen Diskussionen würden wir weiter kommen, wenn wir aufhörten, alles, was uns am Herzen liegt, irgendwie als gerecht darzustellen. Besser wäre es, wir versuchten, alle zweifelhaften Definitionen von Gerechtigkeit ad acta zu legen. Im ersten Moment ist es erschreckend, wie wenig von der riesigen Gerechtigkeitswolke übrig bleibt.

Es gibt weder eine gerechte Lohnhöhe noch einen bestimmten Preis, der gerecht ist. Es ist gerechtigkeitstheoretisch unproblematisch, wenn jemand ohne finanzielle Gegenleistung arbeitet, wie es zum Beispiel ehrenamtlich tätige Menschen machen. Ebenfalls ist es nicht zu beanstanden, wenn jemand für ein Gut einen höheren Preis bezahlt (zum Beispiel für Produkte, die auf bestimmte Weise hergestellt oder gehandelt wurden) oder etwas zum berühmten Freundschaftspreis bekommt.

Auch von der Idee, dass Gleichheit etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat, müssen wir uns verabschieden. Das klingt zunächst ungewohnt, doch wenn es wirklich auf Gleichheit ankäme, dann wäre eine Welt, in der ausnahmslos alle Menschen leiden und schließlich verhungern, das Paradies – schließlich sind hier alle gleich. Schöner wäre es doch, wenn alle genug zu essen hätten, auch wenn das bedeutet, dass etwa Erwachsene deutlich mehr verzehren müssen als Säuglinge.

Schließlich müssen wir uns damit abfinden, dass eine gerechte Verteilung nicht ein bestimmtes, vorab festgelegtes Muster erfüllen muss, sondern sich danach bemisst, ob die einzelnen Handlungen wie Tausch oder Schenkung, die zu diesem Muster geführt haben, gerecht waren oder nicht. Mit anderen Worten: es kommt auf ein gerechtes Verfahren an, nicht darauf, ob das Ergebnis allen gefällt (das wird es vermutlich nie).

Das mag einfach klingen, tatsächlich ist es aber immer, wenn der Bereich der privaten Vereinbarungen verlassen wird, verflixt schwierig, gerechte Verfahren zu entwickeln, man denke etwa an das Wahlrecht. Möglichst viele Entscheidungen in das persönliche Belieben der Menschen zu stellen, mag daher das Gerechtigkeitsproblem verkleinern, gelöst ist es dadurch nicht.

Doch möglicherweise ist ein Verkleinern des Problems das Gerechteste, was wir tun können. Denn perfekte Gerechtigkeit ist zwar ein hehres, aber auch ein sehr theoretisches Ziel, das praktisch wohl kaum erreicht werden kann. Diese Einsicht sollte uns nicht daran hindern, nach mehr Gerechtigkeit zu streben. Sie sollte uns aber daran erinnern, dass es neben der Gerechtigkeit andere Maßstäbe gibt, die nicht geringzuschätzen sind. Es ist keinesfalls verwerflich, nach nützlichen, humanen, machbaren, praktischen oder schlicht und einfach guten Lösungen für drängende Probleme zu suchen. Auch dann nicht, wenn wir wissen, dass die Lösungen nicht perfekt sein werden.

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