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Die Macht der Bildung

Bildung ist nicht alles. Aber ohne Bildung ist alles nichts. Oder fast nichts. Davon sind die Autoren überzeugt. Bildung verhilft zu sozialem und materiellem Wohlstand, verbessert die Gesundheit, das politische Zusammenleben, reguliert den weltweiten Bevölkerungszuwachs, erhöht die Lebensqualität und damit letztlich auch das Glück. Dass nichts besser als Bildung die Konflikte zwischen der armen und reichen Welt lösen kann – davon sind die Autoren überzeugt. Fragt sich nur, wer bereit ist, das alles zu bezahlen. Reiner Klingholz / Wolfgang Lutz: Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit, Frankfurt am Main 2016, Campus-Verlag


Klingholz U1 20.10.2015.inddWissen und Bildung gehören zweifellos zu den bemerkenswertesten Ressourcen, die wir – oder zumindest ein Teil der Menschheit – besitzen: Sie erschöpfen sich nicht durch Gebrauch, sondern vermehren sich dadurch sogar. Diese so wertvolle Ressource haben die beiden Demographie-Forscher Reiner Klingholz und Wolfgang Lutz zum Thema ihres neuen Buches gemacht: „Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit“. Das ist in heutiger Zeit nicht unbedingt originell. Denn das Thema Bildung wird mittlerweile von allen möglichen Experten beschworen – auch weil es sich verkaufen lässt wie geschnitten Brot. Doch der Absolutheitsanspruch, mit dem Klingholz und Lutz Bildung als das entscheidende Instrument zur Lösung fast sämtlicher Menschheitsprobleme und -fragen emporheben, ist schon bemerkenswert. Die Autoren erklären ausführlich, inwiefern sich Bildung in der Vergangenheit als Erfolgsmodell aufstrebender Gesellschaften bewährt hat. Und sie entwerfen Szenarien, die zeigen, wie sich die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten in Relation zu möglichen Bildungsinvestitionen entwickeln könnte. Um es vorweg zu nehmen: Die Zukunft muss nicht unbedingt schlecht aussehen.

Der eigene Schatz an Wissen bedeutet wahren Reichtum

Zunächst räumen die beiden Autoren mit dem schlechten Ruf des Begriffes „Humankapital“ auf. Viele Kritiker seien der Meinung, der Begriff degradiere den Menschen zu einer ökonomischen Größe. „In Wirklichkeit definiert der Begriff die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die eine Person zur Gestaltung des Lebens besitzt“, schreiben die Autoren. Diese konzentrieren sich nun mal auf den Kopf des Menschen, der auf Lateinisch eben caput hieße. Das Humankapital zeige somit das individuelle Vermögen an, das jeder Mensch besitzt – unabhängig von materiellen Gütern. Und genau darum geht es den Autoren mit ihrer Forderungen, die gesamte Welt mit Bildung zu beglücken: „Nur wer diesen Schatz [an Humankapital] besitzt und darüber selbst verfügt, profitiert von den vielfältigen Vorteilen der Bildung: von höheren Einkommen, von einem weitgehenden Schutz vor Armut und Arbeitslosigkeit, von besserer Gesundheit und einem längeren Leben und vor allem von der Möglichkeit, sein Leben individuell zu gestalten.“

Klingholz und Lutz spannen einen weiten und lehrreichen Bogen um die Erfolgsgeschichte der Bildung. Ob im alten Ägypten, in der Shang-Dynastie in China oder in der klassischen Antike – Bildung war immer etwas für elitäre Minderheiten. Zum Massenphänomen wurde Bildung erstmals mit Martin Luther, meinen die Autoren. Mit dem Reformator, der die Bibel ins Deutsche übersetzte, und dem Erfolg einer neuen Technologie, nämlich dem (Buch-)Druck mit beweglichen Buchstaben, fand Bildung in Form von (Bibel-)Lesen, Erfahren und Reflektieren Einzug in die breite Masse. Es folgte eine Wissensrevolution, von der der deutsche Sprachraum, dann aber auch ganz Europa und schließlich die westliche Welt lange profitierten.

Heute haben Länder wie die asiatischen Tigerstaaten wie Südkorea oder Singapur („Von der Opiumhöhle zum Wissenschaftsmekka“), Mauritius („Von der Hölle auf Erden zum Paradies im Indischen Ozean“) aber auch Japan und China in punkto Massenbildung längst aufgeholt und sind mindestens auf Augenhöhe. Der Westen hat sogar nicht selten das Nachsehen: So stagniert seit 1980 der Bildungsstand in den USA, während er in Ostasien weiter stark expandiert. Die Autoren resümieren: „Einmal erwirkter politischer und wirtschaftlicher Vorsprung muss nicht von Dauer sein und ist abhängig, von den vielfältigen Fähigkeiten einer breiten Bevölkerungsschicht.“

Politik und Entwicklungshilfe haben versagt

Nur der Nahe Osten und große Teile Afrikas („Bildung nur für Minderheiten“) haben Klingholz und Lutz zufolge den Anschluss verpasst. „Zeugungskraft ersetzt keine Bildungskraft“, schreiben sie plakativ. Gerade in diesen Regionen zeige sich, dass regionale Politik Ursache für diesen Rückstand sei. „Menschen von Bildung auszuschließen, ist ein uraltes politisches Instrument, mit dem sich autoritäre Regime und Diktatoren zu stabilisieren versuchen“, schreiben die Autoren. Denn Bildung mache die Menschen unabhängig und selbstbewusst – und deswegen stelle sie seit jeher eine Gefahr dar für alle, die sich mit Gewalt an der Macht halten wollten. Aktuelle Beispiele: der Islamischer Staat (IS) und die islamische Gruppe Boko Haram in Nigeria.

Den zweiten Grund für das Bildungsversagen in vielen Entwicklungsregionen sehen die Autoren im Missmanagement internationaler Institutionen: „Auf der globalen Konferenz zur Finanzierung der Entwicklung, die im Juli 2015 im äthiopischen Addis Abeba stattfand, haben die Delegierten über so ziemlich alles verhandelt, aber nicht über die zentrale Bedeutung von Bildung für die Entwicklung.“ Nur zwei bis vier Prozent der Entwicklungshilfegelder wanderten in Bildungsinitiativen. Dabei hätten nur ein Zehntel der Ausgaben des Irak-Kriegs, der 3.000 Milliarden Dollar kostete, gereicht, um die Bildungsausgaben aller Entwicklungsländer bis zum Jahr 2030 zu bestreiten. Selbst in Sportereignisse fließe mehr Geld. So stecke das Ölscheichtum Katar etwa 200 Milliarden US-Dollar in die Infrastruktur rund um die WM 2020. Dem Nachrichtensender ABC zufolge soll das Land zudem 150 Millionen in die Bestechung von Fifa-Funktionären investiert haben.

Das Ergebnis der weltweiten falschen Prioritäten: 780 Millionen Menschen sind Analphabeten (zwei Drittel davon Frauen), 58 Millionen Kinder gehen weltweit nicht zur Grundschule und 63 Millionen Jugendliche nicht zu weiterführenden Schulen.

Die beste aller Welten ist noch möglich – wenn jemand bezahlt

Schon seit einigen Jahren fordert Co-Autor Lutz „eine radikale Zuwendung hin zu Investitionen in die Menschen“. Lutz gilt als der Begründer der „Sola schola et sanitate“-These. Sie bezeichnet Bildung und Gesundheit als die unerlässliche Basis für eine positive gesellschaftliche Entwicklung. In ihrem Buch stellen die Autoren zwar eine Bildungsagenda mit zwölf Punkten auf – allerdings unterscheidet sie sich kaum von den üblichen Forderungen anderer aktueller Bildungsmissionare. Interessanter wirken da schon die drei Zukunftsszenarien, die die beiden Autoren entwickeln: Das erste beschreibt den „besten aller denkbaren realistischen Wege“. In diesem Szenario löst sich der Kampf der Bildungskulturen durch Wohlstand, wissenschaftlichen Fortschritt und demokratischen Gesellschaften auf. Das Problem: „Das Szenario ist nur möglich, wenn in den wenig entwickelten Ländern sofort in hochwertige Bildung investiert wird.“

Das zweite Szenario lautet: „Durchwursteln wie bisher“! Das würde bedeuten: Ein moderates Wachstum der Weltwirtschaft und der Pro-Kopf-Einkommen entwickelt sich parallel zur Radikalisierung der Länder, in denen Arbeitsplätze, Trinkwasser und medizinische Versorgung fehlen. Das dritte Szenario: Die Entwicklung stagniert und die Welt spaltet sich in Arm und Reich.

Dass sich die beste aller Welten durchaus realisieren lassen könnte, ist für die Autoren kein Ding der Unmöglichkeit. Doch wer soll und will das bezahlen? Für die Autoren gibt es nur einen Weg: eine globale Bildungsallianz – von privaten Stiftungen à la Gates-Foundation und von Regierungen der reichen und armen Ländern.

Fazit
Ein paar Fragen lässt das Buch offen. Zum Beispiel, welche Art von Bildung es genau sein soll, die in den unterschiedlichen Kulturkreisen etabliert werden könnte. Welchen konkreten Bedarf verspüren die Menschen in bildungsärmeren Regionen? Welche Ziele verfolgen sie? Dennoch ist es aufgrund seiner Informationsdichte und historischen Aufarbeitung der globalen Bildungsgeschichte ein lesenswerter Beitrag zur Bildungsdebatte – und empfehlenswert für alle, die plump immer nur nach mehr Bildung rufen, ohne zu erklären, welche gewaltige Dimension menschlicher Lebensqualität eigentlich dahintersteckt.

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