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Deutschland zwischen Macht und Ohnmacht

Deutschland ist in Europa zu mächtig, um nicht zu führen, und zugleich zu schwach, um Europa zu reformieren. Und wenn es nicht aufpasst, verabschiedet es sich langsam auch aus seiner West-Anbindung – der Autor Hans Kundnani  zeichnet ein pointiertes Psychogramm der deutschen Befindlichkeit – ein strenges, starkes, sensibles und auch verzagtes Land. Nur wenn es um seine ökonomischen Interessen geht, ist Deutschland in Europa die unangefochtene „geoökonomische“ Nummer Eins. Hans Kundnani: German Power – Das Paradox der deutschen Stärke,  C.H. Beck, München 2016

Hans Kundnani: German Power – Das Paradox der deutschen Stärke,  C.H. Beck, München 2016Deutschland auf der Couch – so könnte die Kurzinhaltsangabe des Buches von Hans Kundnani lauten. Dass sein Blick auf das aktuelle politische und wirtschaftliche Deutschland bestimmt nicht allen – vor allem deutschen Politikern – gefällt, liegt an der erfrischenden Distanz des britischen Autors zum Thema. Der Politikwissenschaftler und Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Funds hat in seinem nun im Beck-Verlag erschienenen Buch „German Power – Das Paradox der deutschen Stärke“ weit in die deutsche Geschichte zurückgegriffen und über einen Zeitraum von rund 150 Jahren verblüffende Ähnlichkeiten verschiedener Epochen der deutschen Europapolitik ausfindig gemacht.

So analysiert der Autor zunächst Deutschlands Außenpolitik von 1871 bis 1945 und von 1949 bis 1990 – ohne den Anspruch auf historisch neue Deutungen. Dann geht der er Entwicklung der Außenpolitik seit der Wiedervereinigung nach, in der Deutschland in einer „Mischung aus Kontinuität und Wandel“ seine nationale Identität neu ausgerichtet hat – der „deutsche Nationalismus“ bestehe somit heute aus Frieden und Export. Schließlich beschreibt Kundnani die Auswirkung der deutschen Politik seit der Beginn der Euro-Krise 2010 und weist den Deutschen innerhalb von Europa die Position der „Halbhegemonie“ zu: Die Bundesrepublik sei stark und schwach zugleich. Das Land wirke  wie im späten 19. Jahrhundert nach der Reichseinigung: „Von außen betrachtet mächtig, doch in den Augen vieler Deutscher ist ihr Land verwundbar“, schreibt Kundnani.

Konkret: Das Deutschland von heute wolle Europa nicht wirklich führen und widersetze sich einer Vergemeinschaftung der Schulden. Gleichzeitig versuche es, Europa nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, um es wettbewerbsfähiger zu machen.

Abnormales Verhalten der Republik

Dieses Paradox fasst der Autor in den vom Militärtheoretiker Edward Luttwak entliehenen Begriff der „Geoökonomie“:  Anders als zu Kaiserzeiten besitze Deutschland heute nicht politische und geopolitische Macht, sondern eher geoökonomische. Deutschland ist also keineswegs eine Großmacht alter Schule. Nichts hat es mit der expansionistischen Außenpolitik des 19. Jahrhunderts gemein. Aber: „Deutsche Macht zeichnet sich durch eine seltsame Mischung aus wirtschaftlichem Durchsetzungsvermögen und militärischer Abstinenz aus“, meint Kundnani. Deutschland setze seine Macht innerhalb von Europa zunehmend ein, um anderen Mitgliedstaaten seine Präferenzen aufzuzwingen – und sei in dieser Hinsicht „normal“. Doch fehlten dem Land die Ambitionen Frankreichs und Großbritanniens, die eigene Macht außerhalb Europas zu projizieren – insbesondere eben auch beim Einsatz militärischer Gewalt. Es wolle hingegen viel lieber Autos und Maschinen verkaufen – in dieser Hinsicht sei Deutschland „abnormal“.

Verstecken spielen hinter ökonomischer Macht

Sich allein hinter ökonomischer Macht zu verstecken, reicht für Kundnani nicht aus, um Europa zu stabilisieren. Deutschlands Mantra der Preisstabilität haben letztlich zu einer großen Instabilität beispielsweise auf den europäischen Arbeitsmärkten geführt. „Insbesondere seine [Deutschlands]beharrliche Schweigsamkeit darüber, inwieweit es eine Vergemeinschaftung europäischer Schulden akzeptieren wird – offenkundig eine bewusst gewählte Strategie, um den Reformdruck auf verschuldete Länder aufrechtzuerhalten –, hat für ein Klima der Verunsicherung geführt.“ Sein Vorwurf: Die Deutschen betreiben die Wirtschaftspolitik  eines Kleinstaats und nicht die der größten Ökonomie in Europa. Damit ähnelt – so Kundnanis historisches Resümee – die Bundesrepublik dem Deutschland innerhalb Europas von 1871 bis 1945. „Deutschland scheint in die Position einer Halbhegemonie zurückgekehrt sein.“

Die Frage, ob Deutschland in strategischer Hinsicht langfristig Teil des Westens bleiben wird, kann man wie Kundnani am Ende seines Buches aufwerfen. Aber auch wenn zwei vom Autor nicht weiter benannte Meinungsfragen angeblich behaupten, die Deutschen seien sich nicht sicher, ob sie primär mit Partnern im Westen oder lieber mit Ländern wie China, Russland und Indien oder mit Ost und West zusammenarbeiten, ist die Vermutung einer West-Abkopplung sehr spekulativ – möglicherweise auch der Außenperspektive des Autors geschuldet. Die Frage, ob da nicht eher England weiter in der EU bleiben will, scheint da viel aktueller, wahrscheinlicher und brisanter.

Fazit

Ein lesenswertes Buch, das einen frischen Blick auf die deutsche Politik wirft. Vor allem Kundnanis Analyse über die seit 2010 sehr komplexe deutsche Wirtschaftspolitik ist gelungen. Er zeigt auf wunde Stellen, über die sich viele Deutsche vermutlich überhaupt noch keine Gedanken gemacht haben. Sehr heilsam!

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