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Der Gotthard als Symbol: Warum der längste Bahntunnel der Welt tatsächlich Bewunderung verdient

Nach fast 17 Jahren Bauzeit haben die Schweizer heute den längsten Eisenbahntunnel der Welt eröffnet. Doch nicht nur der Größe wegen verdient dieses Projekt  Respekt.

So viel ist klar: Der 1. Juni 2016 wird in die Schweizer Geschichtsbücher eingehen. Heute ist der Tag, an dem der Gotthard-Basistunnel mit Pomp und politischer Prominenz auch aus den Anrainerstaaten eröffnet wird: eine 57 Kilometer lange graue Doppelröhre, der längste und am tiefsten liegende Eisenbahntunnel der Welt. Sie ist zugleich ein politisches Zeichen für internationale Öffnung statt Isolation. Die Schweizer platzen vor Stolz. „Wir lieben Löcher“, titelte der Tages-Anzeiger.

Wenn sämtliche Arbeiten abgeschlossen sind, wird das Jahrhundertwerk die Fahrzeit von Zürich nach Mailand im Personenverkehr um ein Viertel auf drei Stunden verkürzen. Die Transportkapazitäten im Güterverkehr nehmen von 20 auf rund 50 Millionen Tonnen im Jahr zu.

Bis zu 2,3 Kilometer hoch türmt sich das Massiv aus Granit und Gneis über dem Tunnel, 24 Millionen Tonnen Gestein mussten bewegt werden. Insgesamt 12 Milliarden Franken hat das Projekt gekostet, 17 Jahre haben die Arbeiten gedauert – ein Jahr weniger als geplant. In der Schweiz geht so etwas.

Schon in den vierziger Jahren hatten die Eidgenossen Pläne für einen neuen, leistungsfähigeren Eisenbahntunnel am Gotthard gehegt. Wirklichkeit geworden ist er jedoch erst jetzt und auch nicht ganz im Schweizer Alleingang. Im Rahmen der Transeuropäischen Netze (Ten-T) bildet er vielmehr einen Teil eines großen europäischen Infrastrukturprojekts zur Überwindung der Alpen, dessen Dringlichkeit die Europäischen Gemeinschaften 1985 in ihrem Weißbuch zum Binnenmarkt hervorgehoben hatten. Das Schweizer Vorhaben der Neuen Alpentransversalen (Neat), das auch den 2007  in Betrieb genommenen Lötschberg-Basistunnel umfasst, floss 1992 in das für alle Seiten wirtschaftlich höchst bedeutsame Transitabkommen mit der Europäischen Union (EU) ein. Dieses ging später in den bilateralen Verträgen auf. Das Ziel bestand darin, den Handel zu erleichtern – auf liberale und umweltfreundliche Weise. Und in der Tat – der neue Gotthard-Basistunnel, der eine zunehmende Verlagerung des Schwerverkehrs von der Straße auf die Schiene ermöglicht, ist als Herzstück der Transportachse Rotterdam-Genua ein Beitrag zur weiteren ökonomischen Integration.

Diese erfolgreiche gemeinsame Anstrengung Europas ist einiges an  Bewunderung wert. Sie reicht über die Grenzen der EU hinaus, und sie symbolisiert auf sehr handgreifliche, optimistische und moderne Weise den Nutzen, die Zukunftsgerichtetheit und die Tragfähigkeit der europäischen Einigung auf ökonomischem Gebiet. Ein solches starkes Integrationssymbol ist wichtig in diesen Zeiten, in denen die EU unter den währungs- und flüchtlingspolitischen Herausforderungen und den Fluten des Rechtspopulismus ungeahnte Fliehkräfte entwickelt. Auch die Fingerhakelei zwischen der EU und der Schweiz in der Frage der Zuwanderung – die 2014 angenommene Volksinitiative zur Begrenzung der Masseneinwanderung kollidiert frontal mit der vereinbarten Freizügigkeit – könnte Befriedung gebrauchen. Und auf jene Schweizer, die ein wenig naiv von nationaler Selbstbestimmung ohne völkerrechtliche Einschränkungen träumen und die EU über alle inhaltlich gebotene Kritik hinaus dämonisieren, mag es heilsam wirken, sich vom Gotthard an das Gemeinsame in Europa erinnern zu lassen. Es passt da nicht schlecht, dass der mittelalterliche Namensgeber jenes Massivs ein Ausländer war, St. Godehard, ein heiterer, vielreisender Bischof aus Hildesheim.

Natürlich war der Bau des Gotthard-Basistunnels und der Neat insgesamt in der Schweiz nicht unumstritten. Es stellte sich die Frage nach Sinn und Rechenhaftigkeit, und die Verhandlungen waren schwierig. Doch die Reibungen ließen sich mit gewitzter Diplomatie überwinden; der damalige Verkehrsminister Adolf Ogi flog manche seiner Verhandlungspartner aus Brüssel mit dem Helikopter in engste Schweizer Alpentäler ein, um ihnen zu zeigen, dass dort kein Platz für größere Autobahnen sei. Politisches Geschick half auch dann noch, als das Schweizervolk 1994 die Regierung mit der „Alpeninitiative“ den Schwerverkehr stärker drosseln wollte, als es das Transitabkommen zuließ.

Und auch sonst gibt es viele Gründe, den gigantischen Tunnelbau trotz mancher Fragezeichen mit Bewunderung zu betrachten – auch aus rein schweizerischer Perspektive.

Erstens: Die Bereitstellung von Infrastruktur ist ein zwar gewiss nicht ausschließliches, aber doch klassisches Tätigkeitsfeld für die öffentliche Hand – gerade wenn es um Projekte in dieser Größenordnung geht, die politische Vermittlung und einen langen Atem brauchen. Ordnungspolitisch ist hiergegen grundsätzlich wenig einzuwenden.

Zweitens: Dass es so gut wie keine betriebswirtschaftliche oder volkswirtschaftliche Wirtschaftlichkeitsstudie gibt, die aus rein Schweizer Sicht zu einem positiven Ergebnis für den Gotthard-Basistunnel oder die Neat insgesamt kommt, macht zwar stutzig. Doch zum Nutzen dieser ordentlich durchfinanzierten Investition müsste auch hinzugezählt werden, wie sehr die Schweiz von dem profitiert, was sie im Rahmen des Transitabkommens und später in den bilateralen Verträgen als Gegenleistung von der EU bekommen hat. Die Vermutung indes, dass der Nutzen insgesamt positiv ist, liegt auf der Hand.

Drittens: Die Finanzierung folgt dem klassischen Äquivalenzprinzip so weit wie möglich, die Nutzer werden herangezogen. Das Geld stammt aus einem Fonds, der aus drei Quellen gespeist wird, der Schwerverkehrsabgabe (64 Prozent der Einnahmen), der Mineralölsteuer (13 Prozent) und der Mehrwertsteuer (23 Prozent). Ordnungspolitisch ist das ideal.

Viertens: Der Schweizer Stimmbürger ist mehrfach gefragt worden und hat das Projekt jedes Mal mit überwältigender Mehrheit angenommen. An seiner Legitimität besteht mithin auch dann kein Zweifel, wenn man mittlerweile hat erleben müssen, dass die Verlagerung auf die Schiene schwieriger – weil teurer – ist als ursprünglich gedacht. Wie der Ökonom Gebhard Kirchgässner von der Universität St. Gallen betont, erklärt die systematische Einbindung der Bürger, warum es in der praktischen Abwicklung zu keiner wesentlichen Reibung gekommen ist. Großprojekte treffen auf weniger Widerstand, wenn sie direktdemokratisch abgesichert sind.

Dass die ranghöchsten Vertreter der EU (Ratspräsident Donald Tusk, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Parlamentspräsident Martin Schulz) für den Festakt am 1. Juni abgesagt haben, sorgt in der Schweiz allerdings für etwas Unmut. Bei der Feier geht es den Eidgenossen auch um die Demonstration, dass sie mit der EU auf Augenhöhe sprechen. „Wir können Tunnel eröffnen und wir können sie auch wieder schließen“, giftet Yves Nidegger von der Genfer SVP.

Die isolationistische Versuchung ist unter den Rechtspopulisten immer präsent.

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