Buchkritik, Ordnungspolitik

Der Mann mit den vielen Listen

Wieder ein Buch von Thilo Sarrazin. Und wieder steht die Frage im Raum, welche angeblich so unbequemen Wahrheiten er jetzt auftischt. Außer viel Belehrung ist nicht so viel Neues drin. Nach der Lektüre auch dieses Sarrazin-Buches steht jedenfalls fest: Man muss nicht seiner Meinung sein – Querdenkertum hilft, den eigenen Gedankenquark zu überwinden. Aber: Sarrazins Eitel- und wohl auch Verletzlichkeit sind nur schwer zu ertragen. Thilo Sarrazin: Wunschdenken – Europa, Währung, Bildung, Einwanderung- warum Politik so häufig scheitert, DVA, München 2016

Thilo Sarrazin: Wunschdenken – Europa, Währung, Bildung, Einwanderung- warum Politik so häufig scheitert, DVA, München 2016Da holt der Autor in seinem neuen Buch nach, was er in seinem letzten verpasst hat: Thilo Sarrazin feuert in seinem jetzt erschienenen „Wunschdenken“ eine Kanonade von Verbesserungslisten ab, die beschreiben, was der deutsche Politikbetrieb in Sachen Bildung, Umwelt, Europa-, Flüchtlings- und Grenzpolitik in den vergangenen Monaten und Jahren alles hätte besser machen können und sollen. Klar, das ist nicht so schwer, denn die beste Diagnose stellt immer der Pathologe. Das auffälligere Manko ist ein anderes: Mit dem Selbstverständnis eines Mannes, der glaubt, als Baustaatssekretär, Finanzsenator und Bundesbanker nicht nur die Welt gerettet, sondern auch von allen Übeln erlöst zu haben, muss man sich erst einmal anfreunden, um dieses Buch zu lesen. Versuchen wir es also.

Größte politische deutsche Torheit seit dem Zweiten Weltkrieg

Belesen ist er zweifellos. Zunächst liefert Sarrazin einen umfassenden Einblick in das politische Denken und Handeln verschiedener Gesellschaften: Er schildert die Entwicklung demokratischer Staatsformen (von Platon über Augustinus bis Thomas Morus und Karl Marx), debattiert über die „offene Gesellschaft“ und definiert den Aktionsradius von Politik. Der gute Politiker zeichne sich vor allem dadurch aus, dass er willens und in der Lage ist, komplex und in großen Zeiträumen zu denken. Frankreichs Hollande gehört für ihn nicht dazu, die deutschen Regierungspolitiker auch nicht und schon gar nicht die Bundeskanzlerin, die sich für Sarrazin mit ihrer Flüchtlingspolitik die „größte politische Torheit, die ein deutscher Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg beging“, geleistet hat – ein Superlativ, der wohl mehr verletzen als sachlich überzeugen soll. Dass die Flüchtlingspolitik „moralisch begründet“ wird, ist für den Autor der politische Sündenfall schlechthin. Er glaubt: „Soll Politik aber erfolgreich sein, reichen moralische Maßstäbe nicht aus.“ Dass er da mal nicht irrt. Moral pur und nur reicht als Maßstab bestimmt nicht aus. Denn Moral und Gutmenschentum haben in der Politik nicht selten zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen geführt. Vernunft und Verstand sind also vonnöten. Doch gleichzeitig ist Moral immer auch ein wichtiges Korrektiv gewesen, um selbstgefälliger Politik das Handwerk zu legen. Auch wenn sich Sarrazin für das Staatswesen eine „Kombination von Freiheit und Sicherheit“ wünscht, wird sein Idealbild eines Staates von knallharter Überwachung geleitet – sowohl der Bürger als auch der Machthaber. Er schreibt: „Ein Staat, der beides gewährleistet, kann nur ein starker Staat sein, denn er muss die Freiheit und Sicherheit des Individuums garantieren und zugleich alle Mitglieder der Gesellschaft dahingehend überwachen, dass niemand durch Übergriffe die Freiheit und Sicherheit anderer gefährdet.“

Der Retter von Banken und Bauvorhaben
Was dann folgt, sind zahlreiche Listen für eine bessere Politik: Seine zehn Regeln „für den guten Regenten“ wirken allerdings wie aus einem Management-Reader für Führungskräfte. Auch seine „Prinzipien einer guten Regierung“ lassen sich wohl in jedem Grundkurs für politische Bildung erlernen. Interessant ist da noch eher seine Darstellung über die Rolle der staatlichen Bürokratie – doch auch an dieser Stelle gibt er dem Leser gleich eine Liste mit sieben goldenen Regeln mit, „was man tun muss, um eine gute staatliche Verfassung aufzubauen, abzusichern und weiterzuentwickeln“.

Trotz aller Kritik – auch mit Lob geizt er nicht. Allerdings nur für sich. Seine Verdienste um die Rettung der Berliner Bankgesellschaft finden in diesem Buch genauso Erwähnung wie die Einsicht, dass „grundsätzlich der Bau eines neuen Flughafens kein Hexenwerk [ist]. Es kann eigentlich gar nichts schiefgehen, wenn man sich nur an die folgenden Regeln hält.“ Seine Liste mit 16 Anweisungen für erfolgreichen Airport-Bau und sein Verweis auf die Inkompetenz seiner ehemaligen Berliner Polit-Kollegen spare ich an dieser Stelle aus. Allerdings nicht das Eigenlob des Autors: „Die Liste ist übrigens kein theoretisches Konstrukt. Sie gilt für jedes größere Bauvorhaben. Ich habe […] Hunderte größere und großer Bauvorhaben betreut. Nicht eines davon ging schief.“

Deutsche Splendid Isolation?

Als erklärter Gegner der aktuellen Flüchtlingspolitik wünscht er sich eine wirksamere Kontrolle der EU-Außengrenzen [welche Überraschung], eine Wiederherstellung des Schengen-Abkommens und ein Ende des „verkitschten Weltbildes,“, das entsteht, „wenn man irgendeine staatliche Entität, sei es Deutschland, sei es Europa, für die Behebung von Unglück und Misswirtschaft im Rest der Welt verantwortlich machen will“. Denn – so die Logik des Sarrazin: „Staaten haben vor allem den Interessen ihrer eigenen Bürger zu dienen. Sie leisten viel, wenn sie dabei andere Länder und Völker nicht beschädigen. Man kann sie nicht verantwortlich machen für die Nöte und ungelösten Probleme anderer.“ Der Mann sollte es wirklich besser wissen. Sind wir zurück in Zeiten von „splendid Isolation“? Deutschland, das angesichts einer immer komplexeren Weltlage seine Hände in Unschuld waschen soll? Draußen fallen die Bomben und drinnen wird gefeiert? Zu ignorieren, dass beispielsweise deutsche Wirtschaftsinteressen sich erheblich mit internationaler Politik und deren Folgen überschneiden und die deutsche Politik dafür auch Verantwortung zu tragen hat, ist schon unglaublich borniert.

Ist der Mann vielleicht nur besonders listig? Oder doch eher eine Last? Egal wie – von unbequemen Wahrheiten kann in diesem Buch jedenfalls nicht die Rede sein. Es sind vielmehr eigene Wahrheiten.

Fazit: Nur zu empfehlen für Sarrazin-Jünger.