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Für die Armen und für den Frieden: Eine Geschichte der Freihandelsbewegung

Freihandel hat im Augenblick keinen besonders guten Ruf. Weder bei Demonstranten in deutschen Großstädten noch bei Wählern in den alten Industrieregionen der USA. Höchste Zeit, mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte daran zu erinnern, was der Freihandel bringt: Frieden und Wohlstand für alle.

In diesen Tagen begegnet uns immer wieder die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens – vielfach verfilmt (besonders anrührend in der Version mit den Muppets). Die Geschichte erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir auch auf unseren Nächsten schauen. Sie legt den Finger in die Wunde der Indifferenz, des Egoismus und der Gier. Charles Dickens ist der Chronist der Armen und Notleidenden im Großbritannien des 19. Jahrhunderts schlechthin. Keiner konnte so anschaulich und einfühlsam die Nöte der Armen schildern wie er – ganz besonders der Kinder.

Doch wo lag die Verantwortung für dieses Elend? Waren es die kapitalistischen Ausbeuter, die Miethaie, erbarmungslosen Geldverleiher und all die anderen Schurken, deren Gier und Boshaftigkeit Dickens so eindrücklich geschildert hat? Ja. Aber nicht nur. Natürlich gab und gibt es unter den Besitzenden und Reichen viele rücksichtslose Menschen. Aber ebenso gibt es unter ihnen verantwortungsvolle, fürsorgliche und hilfsbereite Menschen, die ihren Nächsten im Blick behalten. Eine Menschengruppe pauschal zur Verantwortung zu ziehen, ist immer eine sehr schlechte Idee.

Der ungeschriebene Roman von Charles Dickens

Es gibt eine Geschichte, die Charles Dickens hätte schreiben können. Schade, dass er das nie getan hat, denn er hätte seine Sprachgewalt und sein Talent damit durchaus in den Dienst einer sehr guten Sache stellen könne. Es wäre eine Erzählung gewesen, in der, wie in so vielen seiner Geschichten, ein Unternehmer eine große Rolle spielt. In der es um Arme und Notleidende geht und um die Gier der Reichen und ihre Besitzstandswahrung. In der es um ein paar sehr sympathische Helden geht und um die sonderbaren Verstrickungen, die zu ihrem Erfolg führen. Es ist die Geschichte der Freihandelsbewegung.

Die Globalisierung war schon seit Beginn der Neuzeit für manch einen bedrohlich. Mit dem rasant wachsenden Handel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs diese Bedrohung. Eine Gruppe, die das Gefühl hatten, dass ihnen die Felle wegschwimmen, waren die englischen Großgrundbesitzer. Diese kleine und enorm wohlhabende Gruppe von überwiegend Adligen hatte mit sinkenden Getreidepreisen zu kämpfen, weil dank des technischen Fortschritts nunmehr günstigeres Getreide aus Deutschland oder den Ländern Osteuropas importiert werden konnte. Sie nutzten ihren leichten Zugang zur Macht, um sich für höhere Zölle auf Getreide-Importe (die sogenannten Corn Laws) stark zu machen – mit Erfolg. Selbst in Zeiten schwerer Hungersnöte waren die Menschen im Land gezwungen, das überteuerte einheimische Getreide zu kaufen.

Zwei reale Helden

Auftritt unseres Helden: Richard Cobden wird 1804 als viertes von elf Kindern eines armen Bauern im äußersten Süden Englands geboren. Mit 15 Jahren geht er nach London, um im Warenhaus seines Onkels zu arbeiten. Der sieht den Bildungshunger seines Neffen mit einer Mischung aus Unverständnis und Missfallen. – Dickens hätte sich die Szenerie nicht besser ausdenken können. – Der junge Richard arbeitet sich nach oben: mit 24 gründet er seine erste eigene Firma. Doch auch wenn die Geschäfte gut laufen, kann unser Held die Finger nicht von den großen Fragen seiner Zeit lassen. Er ist einfach ein klassischer Weltverbesserer, ein Gutmensch.

1835 veröffentlicht er sein erstes Buch: „England, Ireland, and America“. Es ist ein flammendes Plädoyer für die Begrenzung öffentlicher Ausgaben, Freihandel und Pazifismus. Darüber hinaus macht er sich stark für ein besseres Bildungswesen – schließlich hatte er selbst die Erfahrung gemacht, wie wichtig Bildung ist. Nun braucht aber auch jeder Held einen Freund, der ihm zur Seite steht: Sherlock Holmes seinen Watson, Winnetou seinen Old Shatterhand und Frodo seinen Sam. Dieser Freund ist der sieben Jahre jüngere John Bright, den Cobden in dieser Zeit in der Nähe von Manchester trifft. Die beiden teilen dieselben Ideale, für die sie ihr Leben lang eintreten sollten – in guten wie in bösen Tagen: Freiheit, Frieden und Wohlstand für alle.

Eine Graswurzelbewegung für den Freihandel

In der Schutzpolitik für Großgrundbesitzer sehen sie eine Maßnahme, die diesen Idealen diametral entgegenstand. Darum gründen sie im Jahr 1838 die Anti-Corn Law League – eine der frühesten Graswurzelbewegungen der Geschichte. Während Cobden der strategische Kopf der Bewegung ist, wird der sehr begnadete Redner Bright das Aushängeschild. Sie haben gelernt von den Männern und Frauen um William Wilberforce, die einige Jahrzehnte zuvor erfolgreich die Sklavenbefreiung durchgesetzt hatten. Sie verteilen über neun Millionen Pamphlete, um ihr Anliegen zu erklären, führen im ganzen Land Versammlungen und Demonstrationen durch und können Millionen von Unterschriften für ihre Petitionen sammeln. Die Basis ihrer Bewegung sind die Arbeiter und Armen, von deren Nöten uns Charles Dickens so eindrucksvoll berichtet.

Nachdem die Anti-Corn Law League 1846 an ihr Ziel gekommen ist und die Zölle beseitigt wurden, folgen in den nächsten Jahrzehnten viele weitere Maßnahmen zugunsten des Freihandels, die zu einem erheblichen Wirtschaftsausschwung führen – und damit eben auch zu einer substantiellen Verbesserung der Lage einfacher Arbeiter. Cobden ist später der Chef-Unterhändler für den britisch-französischen Freihandelsvertrag im Jahr 1860. Dieser Vertrag ist der Startschuss für ein Freihandelssystem in Europa, das in seinen Grundzügen bis 1914 Bestand hat.

Unerschrockene Pazifisten

Doch mit dem Erfolg von 1846 ist die Geschichte unseres Helden noch nicht zu Ende. Es liegen noch heftigere Herausforderungen vor ihm. Dass ihn eine Zeit lang nicht nur große Teile der britischen Bevölkerung, sondern auch Menschen in ganz Europa begeistert feiern, ist nicht von langer Dauer. Cobden und sein Freund Bright haben nämlich ein Anliegen, das ihnen vielleicht noch wichtiger ist als der Freihandel: sie sind radikale Pazifisten und Anti-Imperialisten. Der Zeitgeist ist hier freilich nicht auf ihrer Seite.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist vielmehr geprägt von einem rasanten Aufstieg von Nationalismus und Militarismus. Kolonien und Eroberungen werden sowohl aus Prestigegründen begrüßt als auch, weil man glaubt, davon als Land wirtschaftlich zu profitieren. Überall wittert man Feinde und man sieht sich inmitten eines globalen Machtkampfes. Der Krimkrieg (1853-1856) und der Zweite Opiumkrieg (1856-1860) versetzen Großbritannien in Kriegsbegeisterung und beim Amerikanischen Bürgerkrieg finden sich die meisten auf Seiten der Südstaaten wieder.

Weltverbesserer, die tatsächlich die Welt verbessern

In diese Stimmung platzen unsere Helden mit ihren Forderungen nach Abrüstung, Diplomatie, konsequenter militärischer Zurückhaltung und einem Rückzug aus den Kolonien herein. Spielverderber. Nachdem sie wenige Jahre zuvor von der Bevölkerung begeistert gefeiert wurden, werden sie nun plötzlich Gegenstand des öffentlichen Hasses. Cobden, Bright und ihre Freunde sind allesamt eigentlich keine Politiker. Sie sind eher überzeugte Aktivisten. Für sie stehen ihre Ideale im Vordergrund. Und deshalb halten sie stand und dienen als Mahnung in einer verrückten Zeit, die im 20. Jahrhundert auf einen schrecklichen Höhepunkt zulaufen wird.

Mit ihrem Pazifismus sind sie leider weniger erfolgreich als mit ihrem Kampf um den Freihandel. Mit diesem freilich haben sie einen wesentlichen Anteil daran, dass Millionen von Menschen – zunächst in Großbritannien, aber dann auch in ganz Europa – den Weg aus der Armut finden. Sie haben dafür gesorgt, dass nicht nur eine kleine Elite von den Segnungen des Fortschritts, der Technik und der Globalisierung profitieren, sondern alle. Sie haben den Mächtigen und Reichen wesentliche Instrumente der Unterdrückung aus der Hand geschlagen. Und sie haben den Armen einen Weg eröffnet zu einem besseren Leben. Ihr Einsatz für Freihandel und Frieden ist immer auch ein Einsatz für andere. Sie sind Weltverbesserer, die tatsächlich die Welt verbessern. Wenn das mal nicht eine großartige Erzählung geworden wäre, wenn sich Dickens nur daran gemacht hätte …

„Ich habe einen Traum“

Gerade in Zeiten wie den unseren, wo eine unheilige Allianz aus Politikern auf der Rechten wie Donald Trump und fanatischen Aktivisten auf der Linken wie Campact und Attac zum Generalangriff auf Freihandel und Globalisierung ruft, sollte man sich wieder die wunderbaren Worte in Erinnerung rufen, die Richard Cobden im Jahr 1846 fand, und mit denen er ein Vorläufer jener berühmten „Ich habe einen Traum“-Rede Martin Luther Kings wurde:

„Ich richte meinen Blick weiter. Ich sehe, dass das Freihandelsprinzip die moralische Welt bestimmen wird wie das Gravitationsprinzip unser Universum: indem es Menschen einander nahebringt; indem es den Gegensatz der Rassen, Bekenntnisse und Sprachen beseitigt; indem es uns in ewigem Frieden aneinander bindet. Und ich habe noch weiter geschaut. Ich habe spekuliert, ja wohl geträumt, von einer fernen Zukunft, vielleicht in tausend Jahren.

Ich habe darüber spekuliert, was das Ergebnis davon sein mag, dass dieses Prinzip obsiegt. Ich glaube, dass es das Antlitz der Erde verändern wird, indem es ein Prinzip des Regierens hervorbringen wird, das sich vollständig vom derzeitigen unterscheidet. Ich glaube, dass das Streben nach großen und mächtigen Reichen absterben wird; das Streben nach gigantischen Heeren und bedeutenden Flotten; nach den Mitteln, die benutzt werden, um das Leben zu zerstören, und um die Früchte der Arbeit zu verwüsten. Ich glaube, dass all das nicht mehr nötig sein wird und auch nicht mehr angewandt wird, wenn die Menschheit erst eine Familie geworden ist und Mensch mit Mensch aus freien Stücken die Früchte seiner Arbeit brüderlich austauscht.“

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