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Menschen und Waren: Warum der freie Personenverkehr in der EU auch ökonomisch ein hohes Gut ist

Wenn die Waren wandern, müssen es die Menschen nicht. Die Vorstellung, bei freiem Handel könne der Produktionsfaktor Arbeit ruhig zuhause bleiben, die erhoffte Wohlfahrtssteigerung komme auch so zustande, stammt aus der ökonomischen Theorie. Die Realität aber zeigt, dass es ganz und gar nicht nützlich ist, sich zwischen beiden entscheiden zu müssen. Wer beides haben kann, ist besser dran.

 Die Europäische Union (EU) will in den Austrittsverhandlungen mit Großbritannien keine „Rosinenpickerei“ zulassen. Genau das freilich hat die Regierung von Premierministerin Theresa May vor: Sie will die Einwanderung aus den anderen Mitgliedstaaten unterbinden, dem Land aber den Zugang zum Binnenmarkt erhalten. Dafür bekommt sie längst nicht nur von jenen Bürgern Zustimmung, die für den Brexit gestimmt haben. Manch einer spricht sich schon länger mit guten Gründen für variable Formen der Zusammenarbeit auch innerhalb der EU aus, und für neue Vorhaben ist das gewiss eine gute Idee. Natürlich bedeutete es zudem noch nicht das Ende aller ökonomischen Verflechtung, wenn man die Personenfreizügigkeit aufgäbe (vgl. das Paper des Brüsseler Bruegel-Instituts).Verfehlt indes ist die als scheinbar akademisches Argument vorgetragene Behauptung, es bedürfe des freien Personenverkehrs ohnehin nicht, also der vertragsgemäß von allen Mitgliedstaaten gewährleisteten Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit: Der Charme des Binnenmarkts liege gerade darin, dass er den Ortswechsel von Menschen unnötig mache. Bei freiem Handel könne der Produktionsfaktor Arbeit ruhig zuhause bleiben, die erhoffte Wohlfahrtssteigerung komme auch so zustande.

Diese Behauptung ist auf einem der Standardmodelle der Außenwirtschaftstheorie aufgebaut. Zu deren Fragen gehört unter anderem, was mit den Preisen der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit geschieht, wenn Länder ihre Grenzen öffnen und Handel treiben. Im idealisierten Gleichgewichtsmodell lautet die Prognose, dass sich diese Preise einander angleichen: Die Unterschiede im Ertrag des Produktionsfaktors Kapitals verschwinden, die Lohndifferenzen ebenso. Hierfür gibt es zwei Triebkräfte. Nach dem einen Modell wandern – erstens – die Produktionsfaktoren so lange an jenen Ort, an dem sie mehr Ertrag erwirtschaften, wie sich das lohnt. Aus einem Land, in dem die Arbeitskräfte reichlich und deren Entlohnung deshalb bescheiden ist, wandern die Menschen so lange ab, bis die so entstehende Verknappung an Arbeitskräften daheim die Löhne nach oben und der Zustrom an Arbeitskräften im Ausland die Löhne nach unten getrieben hat. Am Ende dieses Prozesses steht als effizientes, die Wohlfahrt maximierendes Ergebnis der sogenannte Faktorpreisausgleich, abgesehen von wenigen Unterschieden, die sich aus den Kosten der Verlagerung ergeben. Diese Triebkraft setzt ein System der Personenfreizügigkeit voraus und ist deren Kritikern ein Dorn im Auge.

Nach dem anderen Modell, auf das sich diese Kritiker der Freizügigkeit berufen, kommen – zweitens – die Unterschiede zwischen den Faktorpreisen aber in der Tat auch von der Seite der Waren unter Druck, die sie erzeugen. Bei völlig freiem Handel – und unter einer Fülle von abstrahierenden Annahmen – gleichen sich im sogenannten Heckscher-Ohlin-Modell die Faktorpreise auch ohne Wanderung einander an. Die hinter der Theorie stehende Logik ist einfach: Wenn beispielsweise Arbeitskräfte in einem Land reichlicher vorhanden und deshalb billiger sind als anderswo, verschafft das diesem Land in der Produktion solcher Güter einen Handelsvorteil, die besonders viel von diesem Input brauchen. Deshalb wird die Nachfrage nach solchen „arbeitsintensiven“ Gütern international zunehmend von dort befriedigt. Damit nimmt unter ansonsten unveränderten Umständen auch die Nachfrage nach dem in diesem Land besonders reichlich vorhandenen Produktionsfaktor Arbeit zu, was dessen Entlohnung in die Höhe treibt. Diese Triebkraft wirkt also in dieselbe Richtung wie die andere.

Druck auf die Politik

Jenseits des abstrakten Modells, in der Realität, ist es jedoch ganz und gar nicht nützlich, sich zwischen beiden Triebkräften zu entscheiden. Wer beides haben kann, ist besser dran. Das zeigt schon die Geschichte der Globalisierung im 19. Jahrhundert, die belegt, wie sich beide Kräfte gegenseitig in nützlicher Weise verstärkt haben (vgl. Kevin H. O’Rourke und Jeffrey G. Williamson, Globalization and History, 1999). Das gilt heute in nicht geringerem Maße. Der europäische Binnenmarkt ist zwar noch lange nicht perfekt, aber in den Verträgen ist mit den vier Grundfreiheiten – Freizügigkeit für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital – zumindest eine gute Basis dafür gelegt, dass der Effizienzdruck von den beiden Kräften gemeinsam ausgeübt werden kann. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil der Abbau von Handelsschranken auch sechzig Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge innerhalb der EU eben noch immer nicht vollständig abgeschlossen ist. Daran kann man immerhin arbeiten. Und trotz aller Mängel und Fehler der EU geschieht das auch, unter anderem auf den Feldern Dienstleistungsverkehr und öffentliche Auftragsvergabe. Politisch wäre allerdings der Anreiz, hieran zu arbeiten, wesentlich geringer, wenn die Europäische Union nicht auch durch die Wanderung von Menschen immer mehr zusammenwüchse.

Wichtig ist das beidseitige Greifen dieser Effizienzzange schon deshalb, weil die perfekten Modellbedingungen aus der Heckscher-Ohlin-Theorie, die den Faktorpreisausgleich allein durch Handel abbildet, in der Praxis niemals zutreffen: Die Wirklichkeit ist weit entfernt von perfekter Konkurrenz auf den Güter- und Faktormärkten, Abwesenheit von Transportkosten und sonstigen Handelshemmnissen, Unveränderlichkeit der Menge der Produktionsfaktoren, Vollständigkeit der internen Faktormobilität, Identität der Produktionsfaktoren und der Produktionstechnologien in allen am Handel beteiligten Ländern und ähnlichen Annahmen. Diese sind im Übrigen auch überhaupt nicht dazu gedacht, die Wirklichkeit möglichst exakt abzubilden; sie dienen der Abstraktion. Die Theorie, die so entsteht, gibt lediglich grobe Tendenzen an, zeigt Bewegungsrichtungen auf. Die Wohlfahrtssteigerung, die man sich von offenen Märkten erhofft, hat jedenfalls nur dann eine Chance, wenn alle in diese Richtung wirkenden Kräfte zum Tragen kommen können, sowohl Handel als auch Wanderung.

Menschen werden mobiler

Im Übrigen beruht die Behauptung, man könne bei Freihandel auf den freien Personenverkehr gut verzichten, auf einer irreführenden, weil überholten Prämisse. In den klassischen wie auch in den modernen Modellen der Außenwirtschaftslehre geht man immer davon aus, dass der Produktionsfaktor Arbeit anders als Kapital nicht sonderlich mobil ist. Ob Menschen heimatverbunden oder träge sind, sie verpflanzen sich in der Tat zumindest nicht so leicht wie Maschinenparks. „Von allen Arten Fracht ist ein Mensch am schwierigsten zu bewegen“, lässt der schottische Moralphilosoph Adam Smith nebenbei im Kapitel über den Arbeitslohn in seinem „Wohlstand der Nationen“ fallen, dem einen seiner beiden Meisterwerke, dem die Volkswirtschaftslehre ihren heutigen Status als eigenständige Disziplin verdankt.

Wenn dies also der Befund wäre, dann könnte es tröstlich wirken, dass auch schon der Handel in die Richtung des Faktorpreisausgleichs drängt, die Effizienz steigert und die Löhne hebt. In der heutigen Debatte indes ist die relevante Ausgangslage eine vollkommen andere, und das zu unterschlagen wäre unstatthaft: Die Menschen sind mittlerweile sehr wohl mobil. Nach dem Geschmack der Kritiker der Freizügigkeit sind sie das eben sogar viel zu sehr. Sie wollen wandern, und sie tun es in großer Zahl – sofern der Nationalstaat sie nicht mit irgendwelchen freiheitsberaubenden Barrieren davon abhält. Das Argument verfehlt mithin die eigentliche Debatte. Stattdessen schleicht sich, bewusst oder unbewusst, ein normativer Standpunkt mit übergriffiger Wirkung ein: Die Leute dürfen nicht nur, sie sollen zuhause bleiben. Und warum? Weil jeder in seiner Heimat am besten aufgehoben ist? Weil er das dem Kollektiv schuldet? Weil sich Kulturen besser nicht mischen? Vorsicht: Hier wird das Eis ganz dünn.

Guy Verhofstadt, der in den Brexit-Verhandlungen das EU-Parlament vertritt, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die vier Grundfreiheiten zusammengehören. Alle zusammen dienen sie der „stetigen Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“, wie es in der Präambel des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 heißt. „Man kann sie nicht einfach gegeneinander aufwiegen oder sie trennen“, sagte der Liberale vor der Presse. Er hat recht – und natürlich nicht nur aus ökonomischen Gründen. Die Möglichkeit zur Wanderung von Menschen ist ein politisches Bollwerk gegen die derzeit dramatisch wachsende Gefahr eines Rückfalls in Isolationismus und Protektionismus. Den freien Personenverkehr preiszugeben, bedeutete darüber hinaus den Verzicht auf eine der schönsten Errungenschaften Europas und eine der wichtigsten Freiheiten überhaupt.

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