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Manipulation durch den Staat oder sanftes Anschubsen: Schränkt Nudging die Freiheit ein?

Ein Experiment hat gezeigt, dass Nudging kaum funktioniert. Dennoch setzt die Politik immer mehr auf psychologische Verhaltensbeeinflussung. Sie fürchtet die Debatte mit den Bürgern.

Sie verheißt in der Regel nichts Gutes: die Post vom Stromanbieter. Jahresendabrechnungen mit hohen Nachzahlungen, Ankündigungen von Tariferhöhungen und manch andere böse Überraschung warten in den Briefumschlägen auf die Verbraucher.

Ganz anders sieht die Welt hingegen bei einigen tausend Kunden von Eon und zwei kleineren Versorgern aus. Diese bekamen im letzten Jahr freundliche Werbebriefe, die neben den nüchternen Verbrauchszahlen und allen möglichen Energiespartipps auch hübsche, zum Stromsparen animierende Grafiken enthielten. In den Briefen wurde ihr Stromverbrauch u. a. im Verhältnis zu dem ihrer Nachbarn bewertet.

Man muss sich das so vorstellen: Unter der Überschrift „Die Bewertung ihres letzten Jahresverbrauchs“ findet sich eine dreistufige Skala. Besonders stromsparende Kunden wurden mit kleinen Smiley-Symbolen und einem „Großartig“ visuell beglückt, der Durchschnittsverbraucher bekam immerhin noch einen Smiley und ein „Gut“. Und selbst derjenige, der das Klassenziel verfehlt hat, wurde nicht etwa mit einem strengen „mangelhaft“ oder gar „ungenügend“ abgestraft, sondern bekam ein aufmunterndes „Das geht besser“ mit auf den Weg – allerdings ohne Smiley.

Was hat es mit dieser an „kindgerechte“ Belohnungs- und Motivationspraktiken aus seligen Vorschultagen erinnernden Praxis auf sich? Die erstaunliche Antwort: Sie ist Teil eines großen Experiments zur Untersuchung der Wirksamkeit von verhaltenswissenschaftlichen Interventionen, sog. Nudges (zu Deutsch: Anschubsern), das vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI) durchgeführt wurde. Die Forscher wollten herausfinden, ob und wie durch die gezielte psychologische Beeinflussung der Stromverbrauch in Privathaushalten reduziert werden kann.

Die beruhigende Nachricht vorweg: Das Experiment zeigte, um die F.A.Z. vom vergangenen Montag zu zitieren, die zuerst über die online einsehbare Studie berichtete, „ernüchternd kleine Effekte“ der erprobten Maßnahmen, die Leute haben sich also nicht wie erhofft anschubsen lassen.

Wie lief die Studie ab? Während des Experiments verschickte das RWI verschiedene Varianten von sogenannten Energiesparbriefen an mehrere zehntausend Haushalte: einige mit sozialen Vergleichen und Appellen zum Stromsparen, andere mit konkreten Spartipps für diverse Haushaltsgeräte und wieder andere mit kombinierten ökonomischen und ökologischen Aussagen. Beim Eingangsbeispiel handelte es sich um die Methode des sozialen Vergleichs. Dieser wird in der Fachliteratur als besonders wirksam diskutiert. Im Gegensatz zu den „Spartipps“ – Umwälzpumpe erneuern, neuen Trockner kaufen usw. – oder diversen ökologischen Stromsparappellen, die man überzeugend oder nicht überzeugend finden kann, wird hier auf eher unbewusste Momente des Menschseins gezielt, den Wunsch sich mit anderen zu vergleichen, sei es nun, um dazuzugehören, oder aus dem Ehrgeiz, besser zu sein.

Das persönliche Verhalten des Stromkonsumenten soll ins Verhältnis zu einer virtuellen Peergroup gerückt werden (hier die Gruppe der Stromverbraucher, die gleichzeitig auch dessen Nachbarn sind). Dabei wird eine erstrebenswerte soziale Norm als Vergleichswert postuliert (möglichst niedriger Stromverbrauch). Aus dem Wunsch heraus, der sozialen Norm zu entsprechen, soll der Konsument sein Verhalten ändern, sprich seinen Stromverbrauch reduzieren, so dass er am Ende am besten auch zur Gruppe mit dem Doppelsmiley gehört. Das ist ganz ähnlich wie früher auf dem Schulhof: Weil alle coolen Kinder das neueste Spielzeug oder die trendigen Schuhe haben, sollte ich sie auch haben wollen, nur, dass es hier eben um die Erreichung eines politischen Ziels geht, nämlich Klimaschutz – genauer: CO2-Reduktion durch „Energiesparen“.

So putzig, freundlich und meinetwegen auch gut gemeint er in seiner Ausführung daherkommen mag, geht der Ansatz mit einer Infantilisierung erwachsener Menschen einher. Statt mit Sachargumenten auf der Verstandesebene zu überzeugen, wird der Hebel zur Verhaltensänderung in der vor- oder unbewussten Sphäre angesetzt – hier beim Herdentrieb, von dem wir eigentlich schon seit Sokrates wissen, dass er einer der größten Feinde des selbstdenkenden Menschen ist.

Es ist diese Grundidee des Nudging, sich menschliche Beeinflussbarkeit für vorgeblich gute und richtige Ziele zu Nutze zu machen, der wir bei Novo seit Beginn der breiteren öffentlichen Debatte hierzulande ablehnend gegenüberstehen. Weil sich Menschen nun mal nicht immer ganz rational verhalten und Dinge tun, die aus Sicht anderer nicht zu ihrem eigenen Besten sind, bedarf es ab und an eines sanften Schubsers in die richtige Richtung. Auch wenn Nudging-Befürworter es nicht gerne hören: Das sanfte „Anschubsen“ ist letztlich nur eine freundliche Umschreibung für das unfreundliche Wort „Manipulation“.

Demokraten sollten immer vor Augen haben, warum es wichtig ist, dass sich insbesondere staatliche Autorität in ihrer Kommunikation mit den Bürgern einer distanzierten, rationalen Ansprache bedient: So soll der Bürger vor dem Staat geschützt werden. Die Manipulation durch den Staat ist nämlich keine neue Erfindung. Man denke daran, wie über viele Jahrhunderte religiöse Gefühle selbstverständlich für alle möglichen staatliche Ziele instrumentalisiert wurden oder wie die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ihre Untertanen einer propagandistischen Dauerbeschallung aussetzten.

Dagegen wirken deutsche Energieanbieter, die im Sinne der Verwirklichung offizieller Politikziele Briefe mit Smilyes an ihre Kunden verschicken, selbstverständlich mehr als harmlos. Sie sind dennoch wie die vielen anderen kleinen Nudges, mit denen heute weltweit experimentiert wird, ein Schritt in die falsche Richtung. Ein demokratisches Gemeinwesen kann nur funktionieren, wenn der Staat die Bürger als rationale Akteure ernst nimmt.

Ein weiteres Problem bei diesen Versuchen der Verhaltensbeeinflussung besteht darin, dass wir uns langsam daran gewöhnen, dass alle möglichen Übergriffe in die intimste Sphäre unseres Daseins – unser Denken und unser Fühlen – als ganz normales Mittel staatlicher Regulierung dargestellt werden. Brendan O‘Neill, der Chefredakteur unseres Partnermagazins Spiked hat im Zusammenhang mit dem Nudging und anderen überall in der Gesellschaft zu beobachtenden Formen der Verhaltensbeeinflussung und Bevormundung mal von einer „schleichenden Kolonialisierung unseres Geistes“ gesprochen. Durch den Gewöhnungseffekt immer neuer paternalistischer Übergriffe werden wir langsam unempfindlich dafür, wie unerhört übergriffig psychologische Verhaltensbeeinflussung eigentlich ist.

Den Befürwortern dieses Ansatzes scheinen solche Überlegungen fremd zu sein: Sie loben dessen angebliche Liberalität. Nudging sei ein effizientes und kostengünstiges Instrument für den staatlichen Regulierungswerkzeugkasten. Es komme ohne Zwang und Verbote aus und den Menschen werde ja ihre Wahlfreiheit gelassen. Man kann sich jederzeit anders entscheiden, aus Trägheit alles beim Alten belassen oder den Nudge auch einfach ignorieren (mal ehrlich: Wer liest schon Werbebriefe von Stromanbietern?). Man wird nur leicht geschubst und nicht mit Gewalt zu etwas gedrängt.

Das stimmt. Auch das Scheitern des eingangs erwähnten Experiments weist, wie viele andere gescheiterte Nudges, in diese Richtung. Gleichzeitig geht es den Freunden der Verhaltensbeeinflussung aber gerade darum, die in der Theorie hochgehaltene Wahlfreiheit dadurch einzuschränken, dass sie die „Entscheidungsarchitektur“ – also den Rahmen, in dem Menschen ihre Wahl treffen – so beeinflussen, dass die von ihnen präferierte Wahl wahrscheinlicher wird. Hier zeigt sich ein interessanter Widerspruch in der Argumentation, der Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Freiheitsrhetorik aufkommen lässt.

Zudem wird von dieser beschränkten Wahl behauptet, sie wäre ohnehin die „eigentliche“ Entscheidung des Individuums, zu der es vernünftigerweise auch selbst hätte durchdringen können, wenn es nicht durch irrationale „Verhaltensanomalien“ – also im Menschen mehr oder weniger „natürlich“ angelegte Rationalitätsverhinderungsmechanismen – davon abgehalten worden wäre. Man hilft den Leuten also freundlicherweise über ihre Schwächen hinweg. Wer sollte dagegen etwas haben?

Aber Bürgerhandeln wird nicht dadurch irrational, weil es einem „wissenschaftlich“ gemessenen Nutzen oder staatlichen Vorgaben wiederspricht. Das lässt sich gerade am Beispiel des „Energiesparens“ verdeutlichen. Für den einen Bürger mag es gute Gründe geben, Energie zu sparen (Kosteneinsparung, Umweltschutz etc.), andere mögen andere, aber deswegen keineswegs „irrationale“ Präferenzen haben (Lebensqualität, Bequemlichkeit etc.). Wer an das politische Ziel „Energiesparen“ glaubt, sollte seine Mitbürger mit Argumenten überzeugen, anstatt sie manipulativ beeinflussen zu wollen.

Die Rechtfertigung für individuelle Verhaltenssteuerung ist hier die implizite Annahme eines behaupteten gesellschaftlichen Konsenses, der außerhalb jeder Debatte liegt: Wir müssen alle Energiesparen, sonst drohen uns die Folgen des Klimawandels. Tatsächlich gibt es auch sehr viele gute Gründe, die Warnungen einer übergroßen Mehrheit der Klimaforscher ernst zu nehmen und den CO2-Gehalt der Atmosphäre nicht weiter ansteigen zu lassen. Aber bedeutet das auch, individuelle Sparmaßnahmen sind der richtige Weg?

Spätestens hier sind – zumindest bei mir – Zweifel angesagt. So zeigt eine aktuelle Analyse, dass in Frankreich Elektrizität zehnmal (!) CO2-ärmer produziert wird als in Deutschland. Warum? Unsere Nachbarn setzen vor allem auf sauberen Atomstrom, während hierzulande im Namen des Klimaschutzes eine „Energiewende“ initiiert wurde, die ihre Ziele trotz enormer Kosten kolossal verfehlt. Eine Lösung für dieses Problem ist nicht in Sicht.

Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein, ob die Regierung mit ihren großangelegten Stromsparprogrammen nicht vielleicht auch ein bisschen von ihrer eigenen irrationalen Energiepolitik ablenken und politische Verantwortung an die Bürger wegdelegieren möchte? Es ist zumindest nicht notwendigerweise Ausdruck allzumenschlicher „Verhaltensanomalien“ auf staatliche Klimaschutzappelle eher mit Skepsis oder Ignoranz zu reagieren, wenn auf der Metaebene eine Politik betrieben wird, die diesen Appell ad absurdum führt.

Weiterhin kann man fragen, ob Methoden zur psychologischen Verhaltensbeeinflussung aktuell auch deshalb in den tonangebenden Kreisen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft so populär sind, weil man sich vielleicht insgeheim erhofft, mit deren Hilfe, Diskussionen mit dem störrischen Bürger über die Sinnhaftigkeit der eigenen Vorhaben aus dem Weg gehen zu können? Sanfter Paternalismus, statt harter Überzeugungsarbeit? Sollte in dieser bösen Unterstellung nur ein Fünkchen Wahrheit liegen, wäre das ein ziemlich großes Problem für unsere Demokratie.

Nicht durch unser aller individuellen Schwächen und Unzulänglichkeiten, sondern durch die Vermeidung ehrlicher Diskussionen über das Für und Wider von politischen Zielen werden auf gesellschaftlicher Ebene rationale Entscheidungsprozesse verhindert. Diese entstehen nicht in entrückten Technokratenzirkeln, die sich mehr oder weniger einig sind. Sie brauchen freie und offene Debatten, die uns als Gesellschaft erlauben, Entscheidungen ernsthaft zu reflektieren.

Übrigens: Laut F.A.Z.-Artikel werden die Forscher des RWI, nachdem sich die „Energiebriefe“ als nicht kosteneffiziente verhaltenswissenschaftliche Intervention herausgestellt haben, nun der Erforschung neuer Nudges zuwenden. Unter anderem soll hinterfragt werden, wie die ohnehin politisch geförderten sogenannten intelligenten Stromverbrauchszähler (Smart-Meter) für größere Energiespareffekte nutzbar gemacht werden können. Für die Ergebnisse dürfte sich auch die nun seit gut zwei Jahren tätige Nudging-Projektgruppe des Kanzleramtes interessieren, über deren Arbeit die Öffentlichkeit bis heute so gut wie nichts erfahren hat. Laut Bundesregierung (zitiert im F.A.Z.-Bericht) arbeite sie „an mehreren Projekten, in denen es vor allem um Verständlichkeit von Informationen und Vereinfachung von Prozessen bei der Interaktion von Staat und Bürger geht“. Im Frühjahr sollen erstmals Resultate präsentiert werden. Wenn man das liest, besteht wenig Grund für Optimismus.

Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin Novo Argumente erschienen.

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