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Der Odysseus-Komplex: Neue Regeln für Europa

In Europa geht es zu wie in einem Zirkus mit einem wahrlich spektakulären Programm. Nur ohne Zirkusdirektor und Ablaufplan. Kompetenzen und Verantwortlichkeiten sind schlecht verteilt, Irritationen und Fehlentwicklungen damit vorprogrammiert. Die Autoren wollen klarere Regeln. So analysieren sie Pech und Pannen im Euro-Raum und entwickeln daraus ihre Reformvorschläge. Johannes Becker und Clemens Fuest: Der Odysseus-Komplex – ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise, Hanser Verlag, München 2017

„Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie selbst beschlossen haben.“ So beschreibt der Kabarettist Werner Schneyder humoristisch das Dilemma der europäischen Einheit. Doch so lustig ist das gar nicht. Tatsächlich sind es nicht die Präsidenten von Kommission, Rat, Parlament, Eurogruppe und EZB und auch nicht die Mitglieder des Europäischen Parlaments, die über die Zukunft der Eurozone entscheiden, sondern die Nationalstaaten. „Dieser Zustand ist für Europa und die Eurozone eine bindende Nebenbedingung“, beschreiben die Autoren Johannes Becker und Clemens Fuest das Problem in ihrem Buch „Der Odysseus-Komplex – ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“.

Fuest, Präsident am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (ifo), und Becker, ifo-Forschungsprofessor, entwickeln auf 250 Seiten von der historischen Entwicklung des Euro bis zur Krise und den aktuellen Euro-Rettungsmaßnahmen einen Plan für die Reform der Eurozone. Er betrifft die Bankenregulierung, die Schuldenkontrolle mit Haftung privater Investoren, die Reform des Europäischen Rettungsschirms ESM und der Europäischen Zentralbank und zuletzt die Stärkung der nationalen Wirtschaftspolitik.

Populismus statt Glaubwürdigkeit

Die Autoren sind sich sicher: „Die Eurokrise wurde durch ineffektive Schuldenregeln, unzureichende Bankenregulierung und mangelhafte Rettungsinstitutionen verursacht.“ Eine Verbesserung der Situation sei deswegen schwierig, weil die Eurozone unfähig sei, „sich glaubwürdig und langfristig auf unpopuläre Politikmaßnahmen festzulegen“. Realistische und realisierbare Möglichkeiten habe die Eurozone in vielerlei Hinsicht. Beispiele: Die unheilvollen Verstrickungen von Geldinstitutionen und Nationalstaaten müssen verschwinden, mindestens acht Prozent der Bilanzsumme der Banken sollten an echtem Eigenkapital vorhanden sein. Zudem sollte die Bankenregulierung grundsätzlich deutlich transparenter sein.

Um die Schuldenkontrolle in den Griff zu bekommen, schlagen die Autoren vor, nicht nur bei den Schuldnern, sondern auch bei den Gläubigern anzusetzen. Fuest und Becker fragen, „warum so viele Gläubiger, das heißt Banken, Pensionskassen und Kleinsparer, bereit sind, hochverschuldeten Institutionen weiter Geld zu leihen“. Der Grund: Eine wirklich wirksame Kontrolle und damit ein funktionierendes und glaubwürdiges Insolvenzregime für Staaten innerhalb der Eurozone fehlen nach wie vor.

Das Fünf-Punkte-Programm

Als Lösung schlagen die Autoren zunächst eine dezentral organisierte Fiskalunion vor. Um den Bankensektor besser unter Kontrolle zu halten, sollten die nationalen Regulierer in einer europäischen Behörde aufgehen, in der sie einer zentralen Aufsicht unterstellt sind und auch aus europäischen Mitteln bezahlt werden. In punkto Staatsschulden wünschen sich die Autoren „Accountability Bonds“, also Verantwortungsbonds. Sie wären ein Novum im Bereich der Staatsanleihen. Außerdem seien die Rettungsverfahren à la ESM noch viel zu langsam und unzureichend ausgestattet, um im Krisenfall effektiv zu wirken. Sie sollten weitgehend unabhängig von der politischen Zustimmung der Mitgliedstaaten funktionieren können. Spätestens drei Jahre nach Beginn eines ESM-Programms sollte ein Land den Zugang zum Kapitalmarkt zurückerlangt haben.

Was die Macht der Europäischen Zentralbank angeht, sind die Autoren eindeutig: „Die EZB hat in der Krise eine Reihe von Aufgaben übernommen, die ihr Mandat überschreitet.“ Ihr Wirkungskreis müsse daher deutlicher formuliert und beschnitten werden, fordern Becker und Fuest. Staatenrettung sollte zukünftig allein Aufgabe des ESM und Bankenregulierung die Verantwortung einer eben eigenständigen Behörde sein.

Der wichtigste Reformvorschlag der Autoren betrifft aber wohl die Entscheidungsprozesse: „Überall dort, wo Nationalstaaten allein entscheiden können, ohne die gemeinsame Währung zu gefährden, sollten sie dies auch tun.“ Wo Konsens aller Staaten nötig ist, sollten sich alle auf präzise Regeln einigen, die von einer wirklich unabhängigen Institution überwacht werden.

Fazit

Ob Odysseus, der tragische griechische Held, tatsächlich der richtige Namenspatron für ein solches Buch ist, bleibt dahingestellt. Das Schicksal Europas erinnert eher an Tantalus, manch anderen vielleicht sogar an Sisyphos. Klar ist jedoch: Alle Überlegungen und Bemühungen der Autoren zielen auf die Stärkung und den Erfolg der gemeinsamen europäischen Währung hin. Ihre Vorschläge sind ehrgeizig. Ob sie wirklich realisierbar sind, ist zu bezweifeln. Reformen brauchen Konsens (übrigens auch unter Ökonomen) und breite politische Unterstützung. Danach sieht es zurzeit nicht aus. Was dieses Buch dennoch leistet, ist eine gründliche Analyse der Krise – und viele notwendige Gedankenanregungen für mögliche Reformansätze, die alle politische Lager interessieren sollten.

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