Soziales

Armutsbericht: Der scheinbare Skandal ist ein Erfolg

Eine Zahl geistert durch Deutschland: 40 Prozent der Deutschen seien vom Wohlstand abgekoppelt, weil sie 2015 real weniger verdient haben als Mitte der 90er Jahre. So steht es aktuell im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. „Das demonstriert“, schreibt etwa Alexander Hagelüken in der Süddeutschen Zeitung, „wie unfair der Erfolg im Boomland Deutschland verteilt wird.“ Dabei führt die Zahl nachweislich in die Irre. Eine Widerlegung in drei Schritten.

Neulich schrieb Alexander Hagelüken in einem Essay für die Süddeutsche (SZ) zur Lage der Mittelschicht: „Laut dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verdienen die unteren 40 Prozent der Deutschen heute real weniger als Mitte der 90er Jahre. 40 Prozent: Da kann es sich nicht nur um jene gesellschaftlichen Gruppen handeln, bei denen Geld stets knapp ist. Da muss es sich um weite Teile der Mittelschicht handeln.“ Zurückzuführen sein dürfte diese Aussage des SZ-Autors auf eine Grafik (siehe unten), die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vor kurzem veröffentlich hat und deren vermeintlich dramatischer Befund sich nun Stück für Stück durch die Medienlandschaft frisst.

Leider hat Hagelüken die Beschriftung der Grafik nicht genau genug gelesen. Denn sie bildet keineswegs die Einkommenssituation aller Deutschen ab, sondern lediglich die der Arbeitnehmer.

Tatsächlich zeigt die Grafik des BMAS Folgendes: Die Bruttostundenlöhne der abhängig Beschäftigten in den unteren vier Lohnzehnteln waren im Jahr 2015 real niedriger als im Jahr 1997 – und zwar um vier bis sieben Prozent –, während sich die oberen vier Zehntel der Bezieher von Lohn- und Gehaltseinkommen spürbar verbessert haben. Es ist also weder die Rede von Kindern noch von Rentnern noch von Selbstständigen – und auch nicht von Arbeitslosen. Und das ist der entscheidende Punkt:

Was bei Hagelüken so skandalös klingt und auch dem BMAS als Zeichen dafür gilt, dass der Niedriglohnsektor zu groß sei, ist in Wirklichkeit Ausdruck eines Erfolgs. Genauer untersucht hat das Professor Gabriel Felbermayr vom Münchener ifo Institut. Zwar hat Felbermayr nicht exakt die gleichen Jahre verglichen wie das Nahles-Ministerium, sondern geschaut, was zwischen 1997 und 2013 passiert ist. Doch seine Befunde erklären und entdramatisieren auch die Veröffentlichung des BMAS:

1. Die Ungleichheit unter den Lohneinkommensbeziehern verringert sich seit etwa 2011 wieder, wie Felbermayr anhand verschiedener Indikatoren nachweisen konnte, so etwa auf Basis des Gini-Koeffizienten der Arbeitseinkommen. Einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zufolge, die sich recht gut mit den Zahlen des BMAS vergleichen lässt, ist das durchschnittliche Bruttoerwerbseinkommen des untersten Zehntels der Vollzeitbeschäftigten schon von 2009 bis 2013 um 6,6 Prozent gestiegen – und damit stärker als bei allen anderen Arbeitnehmern. Eine weiter zurückreichende Gegenüberstellung lässt sich zumindest nicht mehr in Klein-Fritzchen-Manier interpretieren, weil sie zu viele Entwicklungen und Verschiebungen ausblendet. Die vielleicht wichtigste Feststellung in diesem Zusammenhang: Zum untersten Lohnzehntel gehören heute andere Menschen als vor zehn oder gar zwanzig Jahren. Denn:

2. Deutschland hat seit den Hartz-Reformen im Jahr 2005 mehr als vier Millionen Arbeitnehmer dazugewonnen und die Zahl der Arbeitslosen um über zwei Millionen verringert. Das bedeutet: Es beziehen vier Millionen Menschen hierzulande ein Arbeitseinkommen, die zuvor nichts verdient und vom Staat oder anderen Unterstützern wie zum Beispiel Ehepartnern gelebt haben. Gegenüber 1995 oder 1997 verzeichnet Deutschland sogar gut fünf Millionen Arbeitnehmer mehr. Viele dieser Neu-Beschäftigten sind geringqualifiziert und verdienen ihrem Qualifikationsstand entsprechend kleine Einkommen.

„Die Sache ist eindeutig: Die Ungleichheit der Bruttoerwerbseinkommen ist gesunken.”

Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ist die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten ohne Abitur und Berufsabschluss von 2005 bis 2015 in Ostdeutschland von 50 auf 32 Prozent zurückgegangen und in Westdeutschland von 24 auf 19 Prozent. Diese Menschen stellen heute das unterste Zehntel der Einkommensbezieher – und haben einen großen Teil ihrer Vorgänger in höhere Zehntel verdrängt. Für sich genommen ist die Arbeitsmarktintegration der Geringqualifizierten ein gigantischer Erfolg – sie hat aber auch zu gigantischen Verschiebungen unter den Beschäftigten geführt. Wer Gleich und Gleich gegenüberstellen will, darf nicht die Arbeitnehmer von gestern mit denen von heute vergleichen, sondern muss sich die gesamte Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter anschauen, die eben auch Arbeitslose und andere Nicht-Erwerbstätige mit null Arbeitseinkommen einschließt.

Die Sache ist dann eindeutig – die Ungleichheit der Bruttoerwerbseinkommen ist nachweislich gesunken: Das klassische statistische Maß für Ungleichheit, der sogenannte Gini-Koeffizient, hat sich bezogen auf alle in Deutschland lebenden Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 2005 und 2013 von 0,59 auf 0,56 verringert.

Grundsätzlich kann der Gini-Koeffizient Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Dabei bedeutet 1, dass einer alles hat, und 0, dass alle gleich viel haben. Die Bruttoerwerbseinkommen sind heute also gleichmäßiger unter den Erwerbsfähigen verteilt als 2005.

3. So komisch es klingen mag: Dass heute mehr Frauen und mehr Ältere arbeiten als Mitte der Neunziger, hat bezogen auf Bruttostundenlöhne in der Gruppe der Arbeitnehmer ebenfalls zu einer größeren Ungleichheit geführt. So ist der Anteil der Frauen an allen Vollzeitbeschäftigten von 31 Prozent im Jahr 1997 auf 38 Prozent 2013 geklettert. Weil Frauen durchschnittlich weniger verdienen als Männer und unter ihnen obendrein auch noch die größeren Einkommensunterschiede herrschen als unter Männern, steigt mit zunehmender Frauenerwerbstätigkeit auch das allgemeine Lohngefälle, wie ifo-Ökonom Felbermayr festgestellt hat.

Zu erklären sind die Geschlechterunterschiede zum einen mit dem Berufswahlverhalten: Frauen gehen seltener als Männer in die gut bezahlten technischen Berufe, sondern überdurchschnittlich oft in Sozial- und Gesundheitsberufe mit ihrem niedrigeren Gehaltsniveau. Zum anderen unterbrechen längere berufliche Auszeiten wie eine Babypause sowohl den Karriere- als auch den Gehaltspfad vieler Arbeitnehmerinnen. Das betrifft aber nicht alle und vergrößert so auch die Diskrepanzen unter erwerbstätigen Frauen. Ähnliches lässt sich auch über den Effekt des steigenden Anteils älterer Arbeitnehmer sagen: Zählten noch 1997 lediglich 23 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland zu den 50- bis 65-Jährigen, sind es heute 34 Prozent. Da die Einkommensunterschiede nach einem langen Berufsweg aber viel höher sind als zu Beginn des Arbeitslebens, führt die zunehmende Erwerbstätigkeit Älterer ebenfalls zu einem Anstieg der Lohnungleichheit.

Was lernen wir daraus? So geläufig wie vielen an der Thematik interessierten Laien das Hantieren mit Einkommenszehnteln, Gini-Koeffizienten und allerlei anderen Verteilungsindikatoren als Beweis für die zunehmende Ungleichheit inzwischen erscheinen mag, einfache Wahrheiten halten diese Statistiken selten parat. Und manchmal ist es eben auch genau andersherum, als der erste Eindruck glauben macht.

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