Bildung

G8 oder G9: Warum die Uhren in Bayern anders gehen (dürfen)

Bayern will zum neunjährigen Abitur zurückkehren. Damit gibt der Freistaat zwar eine bildungspolitische Errungenschaft auf. In diesem speziellen Fall sei das aber auch verständlich, meint Wido Geis, Bildungsökonom am Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

Bayern hat vor kurzem beschlossen, die gymnasiale Schulzeit ab 2018 wieder von acht auf neun Jahre aufzustocken. Nach Niedersachsen ist der Freistaat damit das zweite Bundesland, das flächendeckend zum Abitur nach 13 Schuljahren zurückkehrt – erstmals wird dies für bayerische Kinder gelten, die jetzt in der vierten Klasse sind. Zuvor hatten bereits andere Bundesländer wie Hessen und Schleswig-Holstein an einzelnen Gymnasien wieder G9-Züge eingerichtet. Rheinland-Pfalz ist als einziges Bundesland ohnehin nie ganz zum G8 übergangen, sondern bietet dies nur an bestimmten Gymnasien an.

Dabei gab es und gibt es gute Gründe für das achtjährige Gymnasium. So war Ende der 1990er Jahre immer offensichtlicher geworden, dass junge Akademiker in Deutschland im internationalen Vergleich sehr spät in ihr Arbeitsleben starten. Das hatte mannigfaltige Gründe, angefangen von der relativ späten Einschulung über den Wehrdienst bis hin zum ausgedehnten Studium – und nicht zuletzt die mit 13 Jahren lange Schulzeit. Auch der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hatte 1997 in seiner berühmte Ruck-Rede den Finger in diese Wunde gelegt: „Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.“

Dass ein achtjähriges Gymnasium in Deutschland ohne Weiteres möglich ist, zeigten bereits zu dieser Zeit Sachsen und Thüringen. Beide Länder hatten nach der Wende an der Vergabe des Abiturs nach zwölf Schuljahren festgehalten und belegten bei allen großen Leistungsvergleichsstudien der 2000er Jahre Spitzenplätze. Und nach wie vor gibt es weder Belege dafür, dass die verkürzte Schulzeit zu schlechteren Bildungsergebnissen führt, noch dafür, dass die betreffenden Jugendlichen vermehrt unter Stress oder gesundheitlichen Beschwerden leiden würden, und sie sind auch nicht in ihrer Freizeitgestaltung eingeschränkt. Im Gegenteil: Der Anteil derer, die Sport treiben, Musik machen oder sich ehrenamtlich engagieren, ist an den G8-Schülerinnen und -Schülern sogar überdurchschnittlich hoch. Das Einzige, was Befragungen zufolge beim sogenannten Turbo-Abi zu kurz zu kommen scheint, ist das „Abhängen“, sei es allein am Computer oder gemeinsam mit Freunden.

Dennoch hat die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium in allen Bundesländern zu heftigen Protesten aus der Elternschaft geführt, die bis heute kaum abgeebbt sind. Die wenigen echten Schwierigkeiten mit G8, wie ungünstig konstruierte Stundenpläne für einzelne Klassenstufen, können den Widerstand allein kaum erklären. Vielmehr dürfte ein anderer Punkt entscheidend sein. Nahm im Jahr 2000 erst rund ein Drittel der jungen Menschen in Deutschland ein Hochschulstudium auf, lag der Anteil der Studienanfänger im Jahr 2015 bereits bei 58 Prozent. Wie diese starke Akademisierung zu bewerten ist, sei an anderer Stelle diskutiert.

Fakt ist allerdings, dass auch aus Sicht der Eltern für Jugendliche heute immer seltener ein Weg an der Hochschulreife vorbeiführt, wollen diese alle Karrierechancen wahren. Deshalb ist es vielen Eltern so wichtig, dass ihr Nachwuchs das Gymnasium besucht, auch wenn diese Schulform eigentlich nicht dessen Leistungsniveau entspricht. Dass Eltern sich daher dafür einsetzen, ihren Kindern den Weg zum Abitur nicht schwerer als absolut nötig zu machen, ist nachvollziehbar. Nach Ansicht vieler Eltern ist aber genau das mit dem G8 der Fall – was ihren vehementen Protest dagegen zumindest erklärt.

Dennoch sollten die Länder nicht, wie jetzt in Bayern geschehen, die Uhr wieder zurückdrehen und zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren.

Vielmehr müssen Kinder, die das Lerntempo des Gymnasiums nicht durchgehend bewältigen können, die Möglichkeit bekommen, auf anderen Wegen langsamer zum Abitur zu gelangen. Dafür gibt es in fast allen Bundesländern bereits Angebote. In Berlin, Hamburg, Bremen und dem Saarland bieten Gesamtschulen das neunjährige Abitur an. In Baden-Württemberg können Realschüler an beruflichen Gymnasien binnen drei weiteren Schuljahren zur allgemeinen Hochschulreife gelangen und damit überall studieren.

In Bayern dagegen ist es für junge Menschen sehr schwierig, außerhalb der Gymnasien Abitur zu machen: Die Hochschulreife verleihen dort ansonsten nur noch die Fachoberschulen und die Berufsoberschulen. Fachoberschulen führen Realschulabsolventen im Rahmen einer zweijährigen Ausbildung zur Fachhochschulreife – nicht jedoch zur allgemeinen Hochschulreife. Grundsätzlich dürfen die Fachoberschulen für besonders gute Schüler zusätzlich eine 13. Jahrgangsstufe einrichten, die zum allgemeinen Abitur führt. Allerdings ist diese Option für Eltern im Voraus kaum planbar. Außerdem gibt es Fachoberschulen nur in größeren Städten, das Angebot besteht also ohnehin nicht flächendeckend. Die Berufsoberschulen wiederum richten sich ausschließlich an Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausausbildung und ermöglichen diesen dann auf dem zweiten Bildungsweg, die Fachhochschulreife oder das Abitur zu erwerben.

Eltern in Bayern müssen ihre Kinder derzeit also fast zwangsweise auf ein achtjähriges Gymnasium schicken, wenn sie wollen, dass diese Abitur machen und nicht bei der Fachhochschulreife Endstation ist. Hinzu kommen noch die im Bundesvergleich ohnehin schon besonders hohen Leistungsanforderungen an bayerischen Gymnasien. Es ist also verständlich, dass sich Bayern für die Rückkehr zu G9 entschieden hat, um möglichst viele Schüler mitzunehmen. Denn bayerische Gymnasien können sich im Unterschied zu Gymnasien in anderen Bundesländern eben nicht an den leistungsstärkeren Abiturienten in spe orientieren.

Dennoch ist Bayerns Entscheidung für G9 als bildungspolitischer Rückschritt zu bewerten. Viel sinnvoller wäre es gewesen, wenn leistungsschwächere Schüler eine echte Alternative zum Gymnasium bekommen hätten: Dazu hätten die Fachoberschulen zu beruflichen Gymnasien weiterentwickelt werden können, die regulär zum Abitur führen, oder man hätte eine dreijährige gymnasiale Oberstufe an den Realschulen eingerichtet.

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