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Buchbesprechung: Rente mit 70 – Ein Schwarzbuch

Die Diskussion um die gesetzliche Rentenversicherung wird zunehmend von der Sorge um vermehrte Altersarmut geleitet. Es mangelt nicht an Horrorszenarien, eher an Lösungsvorschlägen. „Rente mit 70 – Ein Schwarzbuch“, herausgegeben von Annelie Buntenbach, Markus Hofmann und Ingo Schäfer, unterstreicht den Befund. Anders als der Titel glauben machen möchte, setzt sich das Buch nicht mit einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit auseinander, in mehr als 40 Portraits geht es um das Thema Arbeit. Ein Etikettenschwindel.

Schon das Vorwort der Herausgeber lässt ahnen, wohin die Lesereise führt. Es gleicht einer Abrechnung mit der Idee einer verlängerten Lebensarbeitszeit: Am Ende stehe „ein höheres Rentenalter, bei niedrigerem Rentenniveau und groteskerweise dennoch höheren Beiträgen“. Statt sich mit den demografischen Herausforderungen zu beschäftigen und alternative Lösungen anzubieten, werden den Befürwortern einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit unlautere Absichten unterstellt. Axel Börsch-Supan, anerkannter Rentenexperte, hat kürzlich eine Dynamisierung der Regelaltersgrenze nach einer Zwei-zu-eins-Regel vorgeschlagen: Steigt die Lebenserwartung um weitere drei Monate, soll die Lebensarbeitszeit um zwei Monate, die Rentenbezugszeit um den übrigen Monat verlängert werden. Die DGB-Vertreter lehnen solche Vorschläge rundweg ab, sind sie doch von den „Gewinninteressen der Unternehmen und der Wirtschaft“ geleitet. Dieser Ton setzt sich fort: „Rente ist keine einfache Mathematik!“, rufen sie den Professoren zu. Gleichwohl präsentiert Frau Buntenbach in ihrer Funktion als alternierende Vorsitzende des Bundesvorstandes der Deutschen Rentenversicherung Bund alle zwei Jahre die Rentenformeln und -finanzen. Ein bisschen Mathe gehört also schon dazu.

Die Debatte um eine Rente mit 70 ist mit dem Vorwort schon geschlossen. Danach berichten die mehr als 40 Porträtierten aus ihrem Arbeitsumfeld. Die Intention ist klar: Es werden Arbeitswelten skizziert, die so hart sind, dass eine Rente mit 70 einer Überforderung gleichkommt. Der Ansatz ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Zunächst ist es schwierig, Einzelschicksale zur Argumentationsgrundlage zu machen – in einem System mit 20 Millionen Rentnern und 36 Millionen Beitragszahlern. 13 Millionen Kinder, die künftige Renten finanzieren, gehören der Ehrlichkeit halber dazu. Es hätte zumindest einer kritischen Würdigung und Einordnung der persönlich gefärbten Argumente in die Rentendebatte bedurft. So gut wie alle Befragten sind Gewerkschaftsfunktionäre und/oder Betriebsräte. Das thematische Spektrum bleibt entsprechend homogen. Einzelhandel und Gastronomie werden kritisiert. Befristungen werden beanstandet, Zeitarbeit abgelehnt und Soloselbstständigkeit problematisiert. Beschrieben werden atypische Beschäftigungsformen und Unternehmensorganisationen mit mobilen Produktionsstätten, Tochterunternehmen und regional verstreuten Betriebsstätten. Alles wichtige arbeitsmarktpolitische Themen. Die Demografie und ihre Folgen für die Rentenversicherung bleiben außen vor.

Harry Schäfer, 56, ist Paketzusteller – „Ein Knochenjob“. Er läuft die zehn Kilometer in 45:30 Minuten. Es kommt vor, dass er „sogar manchmal noch auf Ältere trifft, die an ihm vorbeiziehen“. Den Leser von heute lässt die Bemerkung ungerührt, und doch steckt ein wesentlicher Kern in ihr. Vor fünfzig Jahren hätte sie großes Erstaunen ausgelöst: undenkbar zu einer Zeit, in der man im Schnitt 2,8 Kinder bekam und etwa zehn Jahre lang Rente bezog. Heute sind es nur halb so viele Kinder und eine etwa doppelt so lange Rentenbezugsdauer. Wir leben immer länger und altern fitter. Davon profitieren ganz sicher nicht alle, aber immer mehr. Doch diesen Aspekt beleuchtet das Buch nicht. Vertan wurde die Chance, die Alterung der Gesellschaft genauer unter die Lupe zu nehmen und kritisch zu diskutieren. Spannend wäre gewesen, was jüngere Arbeitnehmer von der Rente erwarten, was sie für ein angemessenes Rentenniveau halten und wie sie sich leistbare Beiträge vorstellen. Denn am Ende sind alle politischen Überlegungen zum Rentensystem auf drei Kennzahlen zurückzuführen: die Höhe des Beitragssatzes, des Rentenniveaus und des Renteneintrittsalters. Welchen Mix halten die Autoren und Befragten für vertretbar? Man erfährt es nicht.

„Rente mit 70 – ein Schwarzbuch“ überfrachtet die Rentendebatte. Es entsteht der Eindruck, die gesetzliche Rente müsse und könne alle Lebensrisiken auffangen. An diesem Anspruch wird sie scheitern, denn die gesetzliche Rente ist der Spiegel der Erwerbsbiografie. Kaum einer der Porträtierten spricht über eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Längeres Arbeiten wird pauschal abgelehnt. Die Erklärung: Der Altersschnitt der Interviewpartner liegt weit über 50. Die meisten von ihnen sind gar nicht betroffen von einer Rente mit 70.

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