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Das Verfassungsrecht verlangt die Abschaffung des Solidaritätszuschlags

17 Milliarden Euro hat der Staat im vergangenen Jahr durch den Solidaritätszuschlag eingenommen. Nun soll er endgültig weg. Auch juristisch ist dies angebracht, wie ein Gutachten zeigt.

Die sprudelnden Steuereinnahmen erlauben es CDU/CSU, FDP und Grünen, eine ganze Reihe von Steuerentlastungsvorhaben als Themen einer künftigen gemeinsamen Finanzpolitik zu benennen. Nach intensiven Beratungen veröffentlichten die Jamaika-Verhandlungspartner am 24. Oktober, dem Tag der Konstituierung des neuen Bundestages, ein Papier zum „Sondierungsstand Finanzen, Haushalt, Steuern“. Christian Lindner bezeichnete dieses Papier als möglichen Ausgangspunkt einer „finanzpolitischen Trendwende“.

An der Spitze der Agenda steht die Entlastung von Familien mit Kindern sowie von Bezieherinnen und Beziehern unterer und mittlerer Einkommen; dies ganz zu Recht, wenn man allein die jahrzehntelange kalte Progression bei der Einkommensteuer und auch die Entwicklung der – regressiv wirkenden – Umsatzsteuer bedenkt. Während in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland nur wenige Einkommensbezieher dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer unterlagen, ist er heute auf Durchschnittsverdiener anwendbar. Der Regelsteuersatz der Umsatzsteuer hat sich – seit Umstellung auf die Allphasen-Nettoumsatzsteuer im Jahr 1968 – von zehn Prozent auf inzwischen 19 Prozent fast verdoppelt.

Neben weiteren wirtschafts-, umwelt- und sozialpolitisch gut zu begründenden Vorhaben wie der Förderung der energetischen Gebäudesanierung und des Mietwohnungsbaus, einer Ausdehnung der degressiven Steuerabschreibung, dem Einstieg in eine steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung und dem Abbau von – zumal den Klimazielen widersprechenden – Subventionen führt der Katalog geplanter Maßnahmen schon an zweiter Stelle die Streichung des Solidaritätszuschlags auf. Auch dieses Vorhaben ist nachdrücklich zu unterstützen. Die materielle Vollendung der Wiedereinigung, die dies widerspiegelnde Neugestaltung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, die gegenwärtige konjunkturelle Lage, der Beginn einer neuen Legislaturperiode – all dies sollte der Politik die Kraft geben, eine Steuer, die situationsbedingt eingeführt worden war, nach Wegfall der Geschäftsgrundlage auch wieder aufzuheben. Vor dem Hintergrund der deutschen Steuergeschichte, die von zahlreichen Beispielen unterlassener Streichungen überlebter Steuern geprägt ist – man denke allein an die Schaumweinsteuer, die ursprünglich zur Finanzierung der kaiserlichen Kriegsflotte geschaffen worden war –, könnte dies die Glaubwürdigkeit heutiger Finanzpolitik substantiell stärken.

Der Solidaritätszuschlag war zunächst kurzzeitig von 1991 bis 1992 erhoben worden und wurde dann, ab 1995, verstetigt. Das Grundgesetz erlaubt die Auferlegung einer derartigen Ergänzungsabgabe zugunsten des Bundes, wenn dem Bund ein zusätzlicher, konkreter Finanzbedarf erwächst. Dass die Wiedervereinigung einen derartigen Bedarf begründete, steht außer Zweifel. Auch war die Bemessung des Solidaritätszuschlags angemessen. Von einer verfassungsrechtlich unzulässigen Aushöhlung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer kann bei einem Zuschlagstarif von zunächst 7,5 Prozent, seit 1998 fünf Prozent dieser Steuern keine Rede sein.

Gleichwohl zehrt eine Ergänzungsabgabe von den Bemessungsgrundlagen der Einkommen- und der Körperschaftsteuer. Sie muss sich deshalb auch im Verlauf der Zeit fortwährend rechtfertigen. Dies gilt umso mehr, als das Grundgesetz andere nachhaltige Mechanismen bereithält, wenn ein zunächst konkret veranlasster Zusatzbedarf des Bundes in einer allgemeinen Deckungslücke aufgeht. In diesem Fall ist es geboten, die allgemeinen großen Steuern zu erhöhen oder die jeweiligen Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer anzupassen.

Die Rechtfertigung für eine Ergänzungsabgabe ist dabei umso genauer zu prüfen, je länger sie erhoben wird. Weil die Beurteilung schwierig sein kann und an erster Stelle Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers selbst ist, geht das Bundesverfassungsgericht von einem Wegfall des Erhebungsgrundes zu Recht erst dann aus, wenn sich die Verhältnisse „eindeutig und offensichtlich“ geändert haben. Ein wichtiges Beurteilungskriterium ist in diesem Zusammenhang, wiederum in Respekt vor dem Gesetzgeber, die Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit, in diesem Sinne Folgerichtigkeit der Ausgestaltung. Dass auch bei fortgeschrittener Zeit ein konkreter, weiterhin abgabenrechtfertigender Zusatzbedarf des Bundes besteht, muss sich also nachvollziehbar und schlüssig aus dem Gesamtsystem des Einnahmen- und Ausgabenrechts herleiten lassen.

Vor diesem Hintergrund fällt der Jahreswechsel 2019/2020 ins Auge. Von diesem Zeitpunkt gilt das kürzlich vereinbarte neue Finanzausgleichsrecht. Der neue Finanzausgleich stellt sich nicht mehr als ein besonderer Ausgleich im Nachgang zur deutschen Wiedervereinigung dar, der in seiner Zeit richtig und geboten war. Stattdessen wird, für die heutige Zeit bedarfsgerecht, an Finanzschwächen aller Bundesländer angeknüpft, gleich ob in Ost oder West. In diesem Rahmen am Solidaritätszuschlag festzuhalten erschiene nicht folgerichtig. Der Gesetzgeber würde sich zum neuen Finanzausgleichsrecht und zu dem ihm zugrunde liegenden tatsächlichen Befund in Widerspruch setzen. Das Verfassungsrecht verlangt deshalb die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Die aktuelle Konjunktur bietet dazu die fiskalischen Voraussetzungen. Die Verhandlungssituation der Jamaika-Koalition bringt eine insoweit günstige politische Offenheit mit sich.

So naheliegend der Zeitpunkt für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zum Jahresende 2019 ist, so richtig ist es aber auch, dass sich der Rechtfertigungsgrund für den Solidaritätszuschlag graduell verflüchtigt hat. Im noch geltenden Recht spiegelt sich dies in der degressiven Ausgestaltung der Zuweisungen an die ostdeutschen Bundesländer wider. Dementsprechend wird man eine Abschmelzung des Solidaritätszuschlags über einen überschaubaren Zeitraum von einigen Jahren, wie vor einiger Zeit von Finanzminister Schäuble vorgeschlagen, als verfassungsrechtlich akzeptabel anzusehen haben. Für eine Abschmelzungslösung streitet auch das qualifizierte fiskalische Interesse daran, den entstehenden Aufkommensausfall von derzeit immerhin rund 17 Mrd. Euro pro Jahr schrittweise einzuschleichen.

Verfassungsrechtlich problematisch ist demgegenüber der ursprünglich von Martin Schulz propagierte, jüngst wieder in den Vordergrund gerückte Vorschlag, den Solidaritätszuschlag zum Jahr 2020 zunächst nur für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen abzuschaffen, ihn dagegen für Besserverdienende noch für einige Jahre voll greifen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat die soziale Staffelung einer Ergänzungsabgabe im Fall der Ergänzungsabgabe, die in den 1970er Jahren erhoben wurde, zwar als verfassungsgemäß angesehen. Doch rechtfertigte sich die Staffelung damals aus dem Zweck der Abgabe selbst. Denn sie diente dazu, den regressiven, die Einkommensschwächeren besonders belastenden Effekt einer Umsatzsteuererhöhung zu kompensieren. Das Ziel des Solidaritätszuschlags, die Finanzierung der deutschen Einheit, gebietet dagegen keine besondere, über die Einkommensteuerprogression hinausgehende Differenzierung zwischen den Steuerpflichtigen. Eine zur sozialen Staffelung der Einkommensteuer hinzutretende, zusätzliche soziale Staffelung des Solidaritätszuschlags würde vielmehr die Gefahr begründen, dass die gebotene Belastungsklarheit durch die im Ergebnis entstehende Potenzierung der Staffelungen verloren geht und dass es im Zusammenwirken der Staffelungen auch zu willkürlichen Belastungssprüngen kommt. Soll die Ertragsbesteuerung stärker sozial gestaffelt werden, wofür das Verfassungsrecht freilich offen ist, so gebieten es Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, diese Staffelung in die Bemessungsgrundlage oder den Tarif der Einkommensteuer einzuarbeiten. Der Solidaritätszuschlag als Zuschlagsteuer auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer ist demgegenüber gleichmäßig abzuschmelzen.

Grundlage dieses Beitrags ist ein verfassungsrechtliches Gutachten (.pdf), das Prof. Kube im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erstellt hat.

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