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Die Kunst der Weltklugheit

Seit 1980 gehörte Nobert Lammert dem Deutschen Bundestag an. Mit Besonnenheit, Fairness und politischer Intelligenz hat er sich vor allem im Amt des Bundestagspräsidenten den Titel „Der beste Neben-Bundespräsident Deutschlands“ erworben. Sein nun erschienener Reden-Sammelband ist gespickt mit inspirierenden und selten moralisierenden Gedanken. Norbert Lammert: Wer vertritt das Volk – Reden über unser Land, Suhrkamp Verlag,  Berlin 2017

Er war der Lieblingspolitiker der Politiker und so etwas wie der „Abgeordnete der Herzen“: Norbert Lammert, zwölf Jahre Bundestagspräsident und ungekrönter bester Redner im Bundesparlament. Er wählte seine Worte stets klug und verschaffte sich damit nicht nur hohes Ansehen bei Politikern über alle Parteien hinweg, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit. Seine wichtigsten Reden sind in dem 300 Seiten dicken Sammelband „Wer vertritt das Volk – Reden über unser Land“ erschienen. Stilistisch kommt es sicherlich nicht an Graciáns „Handorakel“, Epiktets „Handbüchlein der Moral“ oder an Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit heran. Das verbietet ja schon die von Lammert gewählte Form der Rede. Aber inhaltlich hat es sich bestimmt einen Platz neben diesen verdient.

Insgesamt sind es 31 Redemanuskripte, die – bis auf vier – aus den Jahren 2013 bis 2017 stammen. Sie betreffen Kultur, Kunst, Medien, Sprache, Religion und Gesellschaft, die Rolle des Parlaments, der Parteien und der Demokratie („Demokratie bedeutet mehr als die bloße Existenz eines Parlaments“). Sie betreffen die Globalisierung und die europäische Integration. Dass der Sprachvirtuose Lammert vor allem dann seine Stärke zeigt, wenn er „eine besonnene Rede inmitten einer meist stürmisch geführten politischen Debattehalten muss, brachte ihm vor zwei Jahren vom Tübinger Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik die Auszeichnung „Rede des Jahres 2016“ ein. Konkret erhielt er sie für seine Rede, die natürlich auch Bestandteil seines Buches ist, zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2016 in Dresden. Mit ihr zeigt er sein großes Talent: Deutliche Worte zu finden, ohne in Politiker-Plattitüden zu verfallen und ohne sich zu aggressiven Tönen verleiten zu lassen, ist gerade in heutigen Zeiten nicht nur ein seltenes Gut, sondern auch das beste Instrument gegen Populismus. Die Tonalität seiner Rede im Oktober 2016 war gerade im Hinblick auf die Proteste vor der Dresdner Semperoper entscheidend.

Deutschlands Demokratie ist stark

Auch die Erwartung der Menschen an die Demokratie trieb ihn als Bundestagspräsidenten um. Ob bei der Generaldebatte der „Vierten Weltparlamentspräsidentenkonferenz“ in New York im September 2015 oder der Rede bei der Adenauer Lecture in Köln – für Lammert steht fest, dass sich die Erwartungen der Menschen an die Demokratie verändert haben. Lammert zufolge definiert sich die Demokratie entgegen den allgemeinen heutigen Vorstellungen eben nicht allein über das „über das Erlangen von Mehrheiten“, sondern, darüber, „dass Minderheiten Rechte haben.“ Diese Voraussetzung ist „das Gütesiegel einer funktionierenden Demokratie.“ Die Ideen, dass plebiszitäre Elemente wie Bürgerentscheid gerechter seien oder den Volkswillen besser abbilden würden als parlamentarische Beschlüsse, teilt er nicht. Seine Begründung: Erstens gibt es keinen einheitlichen Volkswillen, höchstens Meinungen. Und zweitens: Bei Bürgerentscheiden oder Volksabstimmungen ist anders als im Parlament nie jemand verantwortlich. Für eine „reife Demokratie ist die Verbindung beider Elemente nötig“, ist Lammert überzeugt. Dass vor allem das heutige, in Demokratie geübte Deutschland eine große Chance hat, trotz vieler nationaler und internationaler populistischer Tendenzen sein politisches System weiterhin zu schützen, ist er optimistisch. Denn die „demokratische Haltung erwächst in Deutschland mehr als irgendwo sonst aus dem Wissen um die Geschichte.“

Europa war immer schon ein Kontinent der Migration

Auch Europa ist Lammert ein großes Anliegen. Die Ansicht vieler, dass die Union heute angesichts gewaltiger Flüchtlingsströme und großer Migration vor nie gekannten Herausforderungen stehe, hält er für falsch. Im Gegenteil. „Die gesamte europäische Geschichte ist eine Migrationsgeschichte – und war auch nie etwas anderes“, meint Lammert. Europa habe unter dieser Migration nie gelitten, sondern stets profitiert. Klar sei jedoch auch: Europa ist nicht allein ein großes Versprechen, sondern auch eine wechselseitige Verpflichtung, in der die Nationen nicht gegeneinander, sondern miteinander Politik machen müssen. In Zeiten der Globalisierung gebe es keine Inseln mehr. „Wir haben Migration, und wir haben sie in Europa als Sehnsuchtsort alle gemeinsam.“

Doch Lammert zweifelt, ob die Europäer wirklich bereit sind, Migranten in der notwendigen Zahl aufzunehmen. „Natürlich sind wir dazu in der Lage. Doch wir wollen nicht. Dass Europa nicht könnte, ist eine Mischung aus Wirklichkeitsverweigerung und Problemverdrängung“, ist Lammerts bittere Erkenntnis. Es sei jedoch das Gebot der Stunde zu handeln. Denn – und hier spricht Lammert noch ganz (bundestags-)präsidial: „Nichts kann dem Freiheitswillen der Menschen, und eben auch der Migranten und Flüchtlinge, auf Dauer im Wege stehen.“

 Fazit

Die Lektüre seiner Reden ist ein Gewinn. Lammert bleibt in seinem Duktus eher Erklärer als Ankläger. Er schaut der Wahrheit ins Gesicht und fürchtet sich, trotz aller Contenance, die er behält, nicht vor Konflikten. Insofern gehört sein Buch nicht nur ins Regal jedes Redners, sondern auch Politikinteressierten. Als überzeugter Europäer ist Lammert angesichts der Globalisierung mehr denn je vom gemeinsamen europäischen Handeln überzeugt. Die Globalisierung ist für Politik und Wirtschaft genau das, was die Schwerkraft für die Physik ist: Man muss sie nicht mögen, aber man sollte sich besser auf sie einstellen (Alain Minc). Auch deswegen gilt es für Lammert, sich als Europa nicht in nationalen Egoismen zu verheddern, sondern Europas Souveränität unter den EU-Staaten aufzuteilen, um für jeden durch die Übertragung von Verantwortung einen möglichst großen Rest an Einfluss auf die eigene Zukunft zu erhalten. „Europa ist unsere Zukunft – wir haben keine andere“, ist Lammert überzeugt. Und er sagt es mit Freude – denn auch das steht für ihn fest: „Für die meisten Probleme, die wir heute haben, würden sich die meisten früheren Generationen beglückwünschen.“

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