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Wir denken nur an Armageddon: Wo kommt all der Pessimismus her?

Dank des industriellen Fortschritts auf allen Ebenen leben wir so lange, so selbstbestimmt und so gesund wie nie zuvor, trotzdem fallen uns Nutznießern dazu nur noch Stichworte ein wie Gewinnmaximierung, Lobbyismus und Krebsrisiko. Warum eigentlich? Eine Analyse.

Einmal, als die Kinder noch kleiner waren, fuhren wir aufs Land, um meine Freunde Shoshanah und Marc in Uchte zu besuchen. Abends kamen wir am hell erleuchteten, imposanten Kieswerk in Stolzenau vorbei. Konrad auf dem Kindersitz hinter mir brach in bitterliche Tränen aus. Er wolle nicht, dass es Fabriken gibt, schluchzte er. Sie machten unsere Welt kaputt, und dann könnten die Tiere nirgends mehr leben. Seine Schwester war auch ganz mitgenommen von dieser finsteren Prognose.

Mir fiel dazu in diesem Moment nur ein, dass der Minivan, in welchem er sich so gern herumfahren lässt, genauso am Fließband hergestellt worden ist wie z. B. seine geliebten Legosteine. Und dass Fabriken nicht automatisch die Welt zugrunde richten. Konrad glaubte mir kein Wort, hatte er doch mit eigenen Augen im Vorlesebuch gesehen, dass die Bagger und Maschinen vor allem damit beschäftigt sind, die ganze schöne Natur niederzuwalzen, um stattdessen eine blöde Fabrik hinzustellen. Irgendwann sank er, leise wimmernd vor Erschöpfung, in einen unruhigen Schlaf.

Was auch immer seit der industriellen Revolution menschengemacht über Tier und Natur hereingebrochen ist, kann nur bedrohlich sein, das wissen wir spätestens seit „Karl der Käfer“ und der Ölkrise in den Siebzigern. Zuvor, in der spießigen Frühzeit der Republik, war zumindest die Zukunft besser. Alles würde automatisch flutschen. Selbstfahrende Staubsauger nehmen der Hausfrau tägliche Mühen ab, während der Familienvorstand im Glaskuppelauto ins Büro schwebt. Im Fernsehen lief „Dein Freund, das Atom“ mit dem verehrten Professor Heinz Haber. Der änderte seine Meinung allerdings schlagartig, als er „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome in die Finger bekam. Von da an schockte er im ZDF das Publikum mit der Frage „Stirbt unser blauer Planet?“. Seit den Siebzigern ist „die Industrie“ in der öffentlichen Meinung untendurch, bis heute. Anonym, lebensfeindlich, unersättlich. “Soylent Green”. Wasserdampf aus Kühltürmen kennen wir nur noch als schwärzlichen, angeblichen Qualm im Gegenlicht. Auch dank des industriellen Fortschritts auf allen Ebenen leben wir so lange, so selbstbestimmt und so gesund wie nie zuvor, trotzdem fallen uns Nutznießern dazu nur noch Stichworte ein wie Gewinnmaximierung, Lobbyismus und Krebsrisiko.

„Während wir bei aller Systemkritik ungebremst konsumieren, verkaufen wir unseren Kindern ihre Zukunft als Endstation.“

Vielleicht stimmt es ja, dass gierige Bonzen, verschworen mit korrupten Regierungen und natürlich mit dem Finanzkapitalismus, uns stopfen wie Mastgänse und die restliche Welt systematisch ausbeuten, als gäbe es kein Morgen. Persönliche Konsequenzen daraus ziehen wir aufgeklärten Bürger im Großen und Ganzen aber nicht. Gerne bestellen wir aus dem industriellen Füllhorn übers Netz bequem zu uns nach Hause, am Black Friday besonders günstig. Klar, was bleibt uns anderes übrig? Ohne iPhone, Laptop, Billy-Regal, Rasenmäher, Kühlschrank, Induktionsherd, Durchlauferhitzer, Fön, Lavalampe, Bluetooth-Lautsprecher, WLAN-Router, Yoga-Leggins und silikonfreies Antischuppenshampoo müssten wir wohl oder übel als Schrate am Rande der Überflussgesellschaft dahinvegetieren, das ist auch nicht schön. Immerhin haben wir den Merinopullover bei Manufactum bestellt, und am Wochenende gibt es Biolammkeule mit Buschbohnen aus der Region.

Während wir bei aller Systemkritik ungebremst konsumieren, verkaufen wir unseren Kindern ihre Zukunft als Endstation. Es ist keine Vision im Umlauf, für die sie sich begeistern könnten, da gibt es nur Smogalarm, Plastikmüll und menschliches Versagen. Wir Alten haben vergessen, clevere Ideen jenseits von Schuld und Sühne zu entwickeln. Nirgendwo ein artikulierter Wille, Probleme beherzt anzupacken und dabei im Kleinen oder womöglich sogar bei sich selbst anzufangen. Nirgends die Zuversicht, dass wir gemeinsam etwas Konstruktives auf die Reihe bekommen können, was uns und Gaia den Arsch rettet (sofern das nötig werden sollte).

Dass uns bis zum vielbeschworenen Jahr 2100 in dieser Hinsicht sehr viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen werden als heute, genauso, wie wir im Jahr 2000 in einer völlig anderen Welt lebten, als sich 1918 irgendjemand hätte träumen lassen, dazu fallen uns maximal Blade-Runner/Matrix/Terminator-Dystopien ein: Business as usual, nur schlimmer. Klar, wie sollten wir uns die Zukunft anders vorstellen als eine Verlängerung der Gegenwart? Ende des 19. Jahrhunderts war die größte Sorge der Stadtplaner, wie man wohl des ganzen Pferdemists auf den Straßen Herr werden könnte, den der zunehmende Verkehr unweigerlich mit sich bringen würde, und wo man all die viele Zugtiere nebst Futter unterbringen sollte. Zum Glück würde sich dieses logistische Problem langfristig von selbst lösen: Im Jahr 2000 würden wir uns vogelgleich von A nach B bewegen, malte man sich aus. Beide Vorhersagen lagen komplett daneben, und in der Rückschau erscheinen sie zauberhaft naiv, doch damals waren sie plausibel.

„Wir sehnen uns die guten alten Zeiten herbei, statt zu neuen Welten aufzubrechen.“

Paradigmenwechsel, und die gibt es alle naselang, lassen sich nicht vorhersehen, weil die dazu benötigten Entdeckungen oder Erfindungen die vorherige Realität über den Haufen werfen. Warum eigentlich sollten wir nicht in der Lage sein, z. B. ein banales Problem wie den Müll in den Meeren wegzaubern zu können – vielleicht sogar sehr viel eleganter, als wir uns das heute noch vorzustellen vermögen? Das Problembewusstsein ist doch da, und immer mehr Menschen sind immer besser ausgebildet. Aber nein, wir haben nur noch einen Weg vor Augen, den nach Armageddon. Und so sehnen wir uns gemeinsam mit Vandana Shiva die guten alten Zeiten herbei, statt im Geiste Jules Vernes und Lieutenant Uhuras zu neuen Welten aufzubrechen.

Auf der Suche nach Lösungen zukünftiger Probleme, die bereits heute absehbar sind (Verschmutzung, Energie, Bevölkerungswachstum, Artenerhaltung), ist unsere vorgeblich progressive Maschinenstürmerei komplett kontraproduktiv. Sie lähmt den Geist. Nachdem nach langer, schwerer Krankheit die geplante Transrapidstrecke zwischen Hamburg und Berlin endlich zu Grabe getragen war, schrieb das Magazin Brand Eins ganz richtig, wir hätten die Fähigkeit verloren zu träumen. 2014 schlug ein Unternehmen vor, eigenfinanziert eine Seilbahn von St. Pauli aus hinüber in den Hamburger Hafen zu spannen. Ein umweltfreundliches Transportmittel, welches die weltbekannte und beliebte Silhouette verändern würde? Wo denken die hin, wir sind hier doch nicht in Barcelona oder London! Bürgerentscheid Hamburg-Mitte, Vorhaben abgeschmettert, Sieg auf der ganzen Linie. Jede noch so harmlose Veränderung des Status quo wird im Keim erstickt, denn irgendwer wird sich schon auf unsere Kosten bereichern wollen und dabei die Risiken verharmlosen. Bedenkentragen ist ganz einfach, und hinterher hat man so oder so recht gehabt. Wir empören uns über „die Industrielobby“ und teilen Glyphosat-Gruselfilme bei Facebook. Solche Posen kosten nichts und bringen dennoch Anstands- und Karma-Punkte. Die einzigen, die fehlen, sind gedankliche Freiheit, Biss, Witz und Kreativität. Diagnose: Wohlstands-Turkey. Mick Hume schreibt: „Der stärkste ‚Ismus‘ unserer Zeit ist nicht der Kapitalismus und sicherlich nicht der Sozialismus, sondern der Fatalismus.

„Wir stehen am angeblichen Abgrund und geißeln uns ein bisschen für unsere eigene Apathie.“

Und so verweigern wir unseren Kindern die Geschichten, in denen das Gute am Ende gewinnt. Falls doch noch welche tief in ihren Seelchen vergraben sein sollten – die meisten kommen ja erst mal als Optimisten zur Welt –, belehren wir sie tagtäglich eines Schlechteren. Hier am örtlichen Gymnasium, neuerdings eine „Klimaschule“, befasst sich mein eigener Nachwuchs seit Monaten ausschließlich mit dem bevorstehenden, menschengemachten Weltuntergang – fachübergreifend in Englisch, Deutsch, Geografie, Biologie, Philosophie und Politik/Gesellschaft/Wirtschaft. Für ein Englischreferat über ihre Vorstellung von ihrer Zukunft prophezeite meine Tochter gestern: „Climate change destroys my future and the future of millions of other young people, too. Our world is a bomb and we are the lighter.“ (Auf meine Frage, ob sie wirklich meine, keine Zukunft zu haben, antwortete Lilli, sie hoffe doch, vermute aber, die Lehrerin wolle etwas in der Art hören.) Immerhin: Mathe, Musik und Sport verbleiben bis auf weiteres schuld- und schockfrei.

Bleibt die Frage, ob das antrainierte Bewusstsein der gebeutelten Umwelt tatsächlich zugutekommen wird, wenn die Schülerinnen und Schüler erst einmal erwachsen sind. Eine aktuelle Studie belegt nämlich, dass Klimabesorgte die größeren Umweltverschmutzer sind. Wie das? Klimaskeptiker sind eher im konservativen Lager zu finden, und die ziehen individuelle Verantwortung staatlichen Masterplänen vor. Also nutzen sie im Durchschnitt häufiger öffentliche Verkehrsmittel, verwenden ihre Plastiktaschen öfter wieder und kaufen umweltfreundlichere Produkte. (Im Übrigen spenden sie mehr für wohltätige Zwecke.) Wir vorgeblichen Umweltfreunde hingegen, unser Moralkonto dank der WWF-Mitgliedschaft und der Vorliebe für Bioläden fett im Plus, können es uns leisten, einen ansonsten wesentlich weniger nachhaltigen Lifestyle zu kultivieren; globale Probleme kann ja ohnehin nicht der Einzelne, sondern allenfalls die UN lösen. Dieser Effekt, Wasser zu predigen und Wein zu trinken, ist bekannt als moralische Lizensierung.

Wenn unsere Generation der Bewussten später mal zur Rechenschaft gezogen werden sollte, dann womöglich nicht nur für Wohlstandssünden wider besseres Wissen, sondern auch für nicht enden wollende Litaneien weinerlicher PessimismusPornografie. Dafür, dass wir fortwährend romantische, gegenaufklärerische Klagelieder in der Tonart „Alles-Wird-Immer-Schlimmer” anstimmen, während wir gleichzeitig Anspruch erheben auf jede Annehmlichkeit und Zerstreuung, die uns der freie Markt bietet. Dass wir „bewusst” handeln, ohne dafür je den Eames-Chair-verwöhnten Mittelklasserücken krummzumachen, einfach, indem wir Petitionen gegen Chlorhühner unterschreiben, aus Protest bei Aral tanken statt bei Shell oder auf der G20-Demo gegen die Globalisierung sind, weil das ein netter Nachmittag mit Freunden ist und wir hinterher sagen können, wir hätten uns später mal nichts vorzuwerfen, denn wir haben uns gegen „das System” gewehrt, inklusive Beweis-Selfie mit Bullen. Entrüstung als Performance, risikofrei. „Awareness” ist günstig zu haben, und wir sehen dabei immer gut aus, wohnen auskömmlich in der geschmackssicher inneneingerichteten Nullenergiewohnung in gentrifizierter Lage und dürfen trotzdem unter allgemeinem Applaus den Kindern die Zukunft vermiesen, durch Fingerzeigen auf „die Industrie” und durch Jammern auf höchstem Niveau. Wir stehen am angeblichen Abgrund und geißeln uns ein bisschen für unsere eigene Apathie. Das ist echtes „White Privilege”.

Inzwischen ist Konrad 15 und gut drauf. Er hat aber hat trotz aller berufsvorbereitenden Schulpraktika ab Klasse 5 keine Wunschvorstellung von seiner Zukunft, außer vielleicht YOLO. Ich wollte Astronaut werden.


Dieser Artikel erschien am 25.05.2018 als Teil der Reihe „Losing my religion” von Matthias Kraus auf Novo.