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Die Haltelinien der Rente – ohne Netz und doppelten Boden

Die aktuelle Diskussion über die Stabilisierung des Rentenniveaus lenkt von einer wichtigen Frage ab: Wie erwirtschaften wir auch in Zukunft den zu verteilenden Wohlstand?

In der Rentendiskussion ist es jederzeit wichtig, ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität zu vermitteln. Das ist verständlich, denn jeder will sich darauf verlassen können, dass die Rentenversprechen eingehalten werden und ein gewisses Lebensniveau im Alter abgesichert ist. Der aktuelle Vertrauensverlust gegenüber den etablierten Parteien und den Institutionen des Sozialstaats führt zusätzlich zu gesteigerten Anstrengungen der Politik, durch vollmundige Sicherheitsversprechen verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Hinzu kommt ein Zeitgeist, in dem viel über einen vermeintlich beschleunigten oder gar disruptiven Wandel lamentiert wird. Auch hier will die Politik punkten, indem sie sich als Garant von Stabilität und Sicherheit inszeniert.

Vor diesem Hintergrund ist auch der von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) jetzt ins Rennen gebrachte Vorschlag zu verstehen, das Rentenniveau sogar über das bereits vereinbarte Jahr 2025 hinaus stabil zu halten. Bis zum Jahr 2040 soll so eine „Renten-Stabilisierung“ erreicht werden. Die Rente eines Durchschnittsverdieners soll im Verhältnis zu den Bruttolöhnen und -gehältern nicht unter 48 Prozent fallen können. So möchte Scholz das Vertrauen in das Rentensystem dauerhaft stärken. Wenig überraschend kanzelt er die nun u. a. auch aus Kreisen des CDU-Koalitionspartners laut gewordene Kritik an seinem Stabilisierungsvorschlag als „unseriös“ ab und behauptet, es würde „Panik“ gemacht.[1] Im gleichen Tonfall konterte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie warf Scholz und der SPD vor, „Unsicherheit“ in der Rentenfrage zu „schüren“ anstatt Sicherheit auszustrahlen. Täglich etwas anderes mitzuteilen „verschärfe die Verunsicherung“ obwohl es doch bis 2025 gemäß der Koalitionsvereinbarung „absolute Klarheit“ gebe.[2]

Bedauerlicherweise wird die Regierungskoalition mit der Diskussion über „Haltelinien“ beim Rentenniveau oder den Beiträgen zur Rentenversicherung das Vertrauen ins Rentensystem nicht stärken. Im Gegenteil: Die Menschen merken, dass es hier um kaum mehr als Zahlendrehereien geht. Denn in der Diskussion bleibt es völlig offen, wie der zukünftige Wohlstand geschaffen werden soll, der unter den vermuteten Bedingungen einer über Jahrzehnte fortgesetzten demographischen Alterung dafür sorgen könnte, dass es auch zukünftig allen Bürgern, also nicht nur den Rentnern, nicht nur so gut wie heute geht, sondern vielleicht sogar ein bisschen besser.

Letztlich müssen die Erwerbstätigen in der Lage sein, diese zusätzliche finanzielle Last kontinuierlich zu tragen, ansonsten werden die Vorschläge als das entlarvt, was sie in Wahrheit sind: Taschenspielertricks.

Tatsächlich erfordert die von Scholz vorgeschlagene Fortschreibung des Rentenniveaus eine deutlich verbesserte Finanzierung des Rentensystems, sofern die Regelaltersgrenze für die Rente nicht heraufgesetzt wird. Nach Berechnungen des Max-Planck-Instituts für Sozialpolitik würde bis 2030 ein jährlicher Fehlbetrag von 45 Milliarden entstehen, der bis 2048 auf 125 Milliarden anwachsen würde.[3] Völlig klar ist dabei: Diese zusätzlichen Beträge zur Rentenfinanzierung müssen irgendwie erwirtschaftet werden. Dabei ist es zunächst nicht von Bedeutung, ob dies über die Rentenbeiträge der späteren Rentenbezieher geschieht oder über Steuern, die die Allgemeinheit trägt. Letztlich müssen die Erwerbstätigen in der Lage sein, diese zusätzliche finanzielle Last kontinuierlich zu tragen, ansonsten werden die Vorschläge als das entlarvt, was sie in Wahrheit sind: Taschenspielertricks.

Ob es den Erwerbstätigen gelingt, diese zusätzlichen Belastungen ohne Beeinträchtigung ihres eigenen Lebensstandards zu tragen, wird wesentlich davon abhängen, ob die Unternehmen ihre Arbeitsproduktivität steigern können. Wenn es also gelingt, pro Arbeitsstunde mehr Produkte oder Dienstleistungen in der gleichen Qualität zu erzeugen, können die Preise sinken. Die Produktivitätssteigerungen wirken sich auf die Reallöhne positiv aus und heben dadurch den Lebensstandard der Erwerbstätigen. Die Unternehmen haben selbst ein großes Interesse daran, diese Produktivitätssteigerungen durchsetzen, da es ihnen im Wettbewerb hilft bessere Gewinnmargen zu erzielen.

Viele Menschen spüren, dass trotz des fast zehnjährigen Konjunkturaufschwungs etwas nicht passt: Schon seit langem entwickeln sich die Reallohneinkommen in Deutschland nur schwach. Große Bevölkerungsschichten bekommen vom Aufschwung nichts oder kaum was ab. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die Reallöhne durchschnittlich nur etwa ein halbes Prozent jährlich angestiegen.[4] Besonders problematisch ist jedoch die Entwicklung der Realeinkommen des am geringsten entlohnten Drittels aller Beschäftigten. Im Jahr 2015 lagen die realen Stundenlöhne dieses unteren Drittels der Beschäftigten niedriger als zwanzig Jahre zuvor.[5] Erst in den letzten Jahren steigen – auch als Folge des allseits beklagten Arbeits- und Fachkräftemangels – auch in diesem untere Drittel die Reallöhne moderat an.

Dieser zuletzt positive Trend dürfte aber nur von kurzer Dauer sein. Seit langem ist erkennbar, dass die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in Deutschland nur eine Richtung kennt, nämlich abwärts. Dies attestierte der Sachverständigenrat bereits 2015 in seinem Jahresgutachten und löste damit weder größere Betroffenheit noch eine politische Diskussion darüber aus, was zu tun sei. Von 2005 bis 2014 halbierte sich das jährliche Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität von zuvor 1,9 Prozent auf nur noch 0,8 Prozent.[6] Seitdem hat sich der Negativtrend weiter verschärft. Im Dienstleistungsbereich, der mit etwa drei Viertel der Erwerbstätigen das mit Abstand größte Gewicht hat, verbesserte sich die Arbeitsproduktivität in den letzten drei Jahren nur noch mit einer Jahresrate von 0,2 Prozent.[7] Aber auch in der Industrie, wo traditionell ein höheres Produktivitätswachstum erreicht wird als in den Dienstleistungsbereichen, steigt die Arbeitsproduktivität immer langsamer. In einigen Branchen, so unter anderem im Maschinenbau, der Chemieindustrie und der Metallerzeugung und -bearbeitung stagniert sie seit gut zehn Jahren oder sinkt sogar absolut.[8]

Vertrauen in die Rente wird erst dann wieder aufzubauen sein, wenn der rein verteilungspolitische Diskurs beendet wird.

Da die Konjunktur vorläufig erst einmal weiter gut läuft und sich der Arbeitsmarkt zwar nicht hinsichtlich der Lohnentwicklung, wohl aber mit Blick auf die entstehenden Jobs in guter Verfassung befindet, lassen sich diese alles andere als leicht zu lösenden Ursachen einer letztlich kraftlosen wirtschaftlichen Entwicklung gut ignorieren. Desto länger diese aber ignoriert werden, auf umso wackeligeren Beinen steht das von Minister Scholz anvisierte Rentenniveau von 48 Prozent. Die Zukunft lässt sich nicht einfach vorhersagen oder planen und das schon gar nicht mit dem Rechenschieber, wie Scholz und andere dem Bürger anscheinend weismachen wollen. Es lassen sich aber hier und heute Bedingungen schaffen, die dazu beitragen, zukünftige Herausforderungen zu meistern. Daher geht die Rentendebatte, wie wir sie aktuell verfolgen können, am Kern des Problems vorbei. Vertrauen in die Rente wird erst dann wieder aufzubauen sein, wenn der rein verteilungspolitische Diskurs beendet wird und endlich der entscheidenden Frage nachgegangen wird, wie wir unseren zukünftigen Wohlstand erwirtschaften wollen – denn der ist unsicherer als manche meinen.

Alexander Horn lebt und arbeitet als selbständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.

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[1] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/finanzminister-scholz-warnt-vor-panikmache-um-die-rentenfinanzen-15756468.html

[2] ARD Sommerinterview vom 26.8.2018, Zit. in: FAZ 27.8.2018 „Merkel weist SPD-Rentenvorstoß zurück“., S. 17

[3] http://www.fr.de/wirtschaft/rente-der-renten-vorstoss-von-olaf-scholz-und-was-er-bedeutet-a-1566743

[4] Hartmut Görgens, Irrtum und Wahrheit über die Reallohnentwicklung seit 1990 – Gegen den Mythos einer jahrzehntelangen Reallohnstagnation, 2018

[5] Karl Brenke und Alexander S. Kritikos, Niedrige Stundenverdienste hinken bei der Lohnentwicklung nicht mehr hinterher, DIW Wochenbericht Nr. 21.2017, S.407-416

[6] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2015/2016, S. 287

[7] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VGR/Inlandsprodukt/Tabellen/Stundenkonzept.html

[8] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2015/2016, S. 292