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Problemvergrößerer: Warum die Hartz-IV-Reformvorschläge von Nahles und Habeck ungeeignet sind

Grüne und SPD wollen das Hartz-IV-System reformieren. Holger Schäfer, Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit am IW Köln, hat sich die Vorschläge von Robert Habeck und Andrea Nahles genauer angesehen und sie unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten bewertet.

Was zunächst mit einzelnen, noch recht unstrukturierten Diskussionsbeiträgen innerhalb der SPD begann, entwickelt sich mittlerweile zu einer breiten Debatte um die Zukunft der sozialen Grundsicherung in Deutschland. Vergangene Woche legte Grünen-Parteichef Robert Habeck einen weitreichenden Vorschlag vor (Habeck 2018). Zuletzt zog SPD-Parteichefin Andrea Nahles in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach (Nahles 2018). Beide Konzepte sind ungeeignet, bestehende Probleme zu lösen, ohne neue, weitaus größere heraufzubeschwören.

Wie werden die Vorschläge begründet?

Gemeinsam ist beiden Vorschlägen, dass die Begründung für die avisierte grundlegende Reform der Grundsicherung nicht in funktionalen Defiziten liegt. Dass Hartz IV effektiv das Existenzminimum von Millionen Leistungsempfängern sichert, kann ebenso wenig in Abrede gestellt werden wie die arbeitsmarktpolitischen Erfolge, die unter dem Regime der Agenda-Reformen erzielt werden konnten. So sank keineswegs nur die Anzahl der leicht vermittelbaren kurzzeitig Arbeitslosen, sondern auch die der Langzeitarbeitslosen – in der langfristigen Betrachtung sogar mit gleichem Tempo (Schäfer 2018).

Habeck macht Hartz IV zwar für „ausbleibende Reallohnsteigerungen“ und das Entstehen des Niedriglohnsektors verantwortlich, um eine Reformnotwendigkeit zu begründen. Überzeugen kann dies aber nicht. Dass die Löhne schon vor den Agenda-Reformen weniger stark anstiegen, wird von Agenda-Kritikern selbst als Argument dafür angeführt, dass die Reformen nicht der einzige entscheidende Faktor für die Gesundung des deutschen Arbeitsmarktes waren (Dustmann et al. 2014).

Wenn aber eine Lohnmoderation schon zuvor ohne das Zutun der Agenda 2010 zustande kam, kann sie auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Tatsächlich fielen die Reallohnsteigerungen nach der Hartz-4-Reform im Durchschnitt sogar höher aus als davor. Gleichsam fällt das Anwachsen des Niedriglohnsektors in den Zeitraum 1997 bis 2006 – und damit weitgehend aus dem Wirkungszeitraum der im Jahr 2005 eingeführten Hartz-4-Reform heraus (Kalina/Weinkopf 2018).

Die Begründung der Reformen sehen die Autoren vielmehr in der vermeintlichen Wahrnehmung der Grundsicherung. So konstatiert Habeck, dass Hartz 4 Unsicherheit ausgelöst habe. Es komme darauf an, Vertrauen und Verlässlichkeit wieder zu festigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ganz ähnlich liest sich das bei Nahles, die feststellt, der Sozialstaat sei zwar gut ausgebaut, doch die Menschen „spüren ihn nicht an ihrer Seite“. Die Grundsicherung werde nicht als Unterstützung wahrgenommen, sondern als Hindernislauf. Das Bild, das dabei von der Grundsicherung, den Job-Centern und seinen Mitarbeitern gezeichnet wird, ist von Pauschalurteilen und unreflektierter Kritik gekennzeichnet. Da ist bei Habeck von einem „System der Gängelung, Pflichten, Bürokratie und Sanktionen“ die Rede, Leistungsempfänger würden erniedrigt und stigmatisiert. Demütigungen und Stigmatisierung meint auch Nahles zu erkennen, verbunden mit unverständlichen Bescheiden, unklaren Zuständigkeiten und fehlenden Ansprechpartnern.

Zur Debatte gehört auch, dass eine solch unreflektiert negative Skizzierung der Grundsicherung überhaupt erst zu der negativen Wahrnehmung führt, mit der man die eigenen Reformvorschläge zu begründen sucht.

Die Begründung für die Forderung nach einer grundlegenden Reform der sozialen Grundsicherung – und damit eines der wichtigsten Elemente der sozialen Sicherung – fußt mithin weitgehend auf der vermuteten Wahrnehmung des Status quo durch die Öffentlichkeit. Nun wäre Nahles‘ und Habecks Bild dieser Wahrnehmung noch zu verifizieren. Doch selbst wenn es sich als treffend herausstellen sollte, erscheint als die angemessene Reaktion eher eine Aufklärung der Öffentlichkeit, so dass Wahrnehmung und Realität der Grundsicherung halbwegs in Einklang gebracht werden.

Klar ist, dass kaum jemand gern Hartz IV in Anspruch nimmt. Aber das ändert nichts daran, dass Tausende Mitarbeiter der Job-Center täglich versuchen, den Leistungsempfängern eine Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und dass die Steuerzahler für diese Bemühungen jährlich einen Milliardenbetrag auf den Tisch legen.

Zur Debatte gehört außerdem, dass eine solch unreflektiert negative Skizzierung der Grundsicherung überhaupt erst zu der negativen Wahrnehmung führt, mit der man die eigenen Reformvorschläge zu begründen sucht. Zudem gebietet der Respekt vor den Leistungen der Mitarbeiter der Job-Center, sich vorurteilsfrei und empiriegestützt mit Erfolgen und Misserfolgen bei der Eingliederung von Grundsicherungsempfängern auseinanderzusetzen. Dies lassen Nahles und Habeck schmerzlich vermissen.

Vorgeschlagene Maßnahmen

Die Konzepte von Nahles und Habeck weisen einige Gemeinsamkeiten, aber auch sehr deutliche Unterschiede auf. Während Nahles’ Vorschläge eher eine – wenn auch weitreichende – Veränderung des bestehenden Grundsicherungssystems beschreiben, geht Habecks Idee weiter. Er will die Grundsicherung gänzlich neu definieren.

Gemeinsamkeiten

Die Gemeinsamkeiten der beiden Papiere sind schnell aufgezählt: Beide wollen erstens eine Erhöhung des Mindestlohns in nicht spezifiziertem Umfang – in der Erwartung, dass dadurch weniger Arbeitnehmer ergänzende Grundsicherungsleistungen benötigen. Das klappt freilich nur, wenn die Erhöhung nicht so stark ausfällt, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze verlieren. Andernfalls würden sie nicht nur für einen Teil, sondern für ihren kompletten Lebensunterhalt Unterstützung durch eine Fürsorgeleistung benötigen.

Bislang sind potenziell beschäftigungsschädliche Wirkungen des Mindestlohns auch dank der anhaltend guten konjunkturellen Lage nicht zum Tragen gekommen. Dies ist keine Gewähr dafür, dass eine Wirkung auch bei höherem Mindestlohn und bei niedrigerem Wachstum ausbleibt.

Wie Habeck dabei zu der Erkenntnis kommt, in der Zeitarbeit würden viele Arbeitnehmer weniger als den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, bleibt sein Geheimnis. Die verbindliche Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung liegt tatsächlich über dem gesetzlichen Mindestlohn.

Zweitens fordern sowohl Nahles als auch Habeck die Einführung einer Kindergrundsicherung. Details bleiben offen, aber im Grundsatz geht es darum, das Kindergeld an das Existenzminimum von Kindern anzupassen. Nicht begründet wird, warum der Staat für die Existenzsicherung von Kindern verantwortlich sein soll, wenn diese Verantwortung im Grundsatz auch von den Eltern wahrgenommen werden kann. Diese Missachtung des Subsidiaritätsprinzips wird in Habecks Konzept auch an anderer Stelle eine wichtige Rolle spielen. Bei dem Vorschlag kommt hinzu, dass die Kindergrundsicherung bei der Bemessung des Transfers offenbar nicht mehr auf das Einkommen angerechnet werden soll, was zu einem höheren Transferanspruch für Familien führt.

Drittens wollen beide das Schonvermögen für Empfänger der Grundsicherungsleistung erhöhen. Dies ist eine nahezu ausschließlich theoretische Debatte, weil es kaum Transferbezieher gibt, die über ein größeres Vermögen verfügen. Für die Akzeptanz der Steuerzahler ist die Frage jedoch nicht unbedeutend. Nur wenige dürften Verständnis dafür aufbringen, mit ihren Steuerzahlungen gegebenenfalls Fürsorgeleistungen für Personen finanzieren zu müssen, die über ein größeres Vermögen verfügen als sie selbst.

Nahles-Vorschläge

Zu den Vorschlägen von Andrea Nahles zählen einige, die bereits vor längerer Zeit von der SPD gemacht wurden. So soll es einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung geben und ein „Arbeitslosengeld Q“ eingeführt werden, was im Wesentlichen einer Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld unter bestimmten Voraussetzungen entspricht. Das Recht auf Weiterbildung verkennt, dass Qualifikationsdefizite längst nicht in jedem Fall die Ursache von Arbeitslosigkeit sind. Genauso wenig ist Weiterbildung in jedem Fall die Lösung, was nicht zuletzt durch die durchwachsenen Evaluationsbefunde dieser Art der Förderung belegt wird. Ob eine Weiterbildung oder eine andere arbeitsmarktpolitische Maßnahme im konkreten Fall das geeignete Mittel ist, kann am besten der zuständige Mitarbeiter der Agentur für Arbeit beurteilen. Der Rechtsanspruch, dessen Wahrnehmung auch noch durch eine finanzielle Besserstellung belohnt werden soll, nimmt der Arbeitsagentur diese Entscheidungsmöglichkeit aus der Hand.

Die Besserstellung durch die Verlängerung der Bezugsdauer wird in vielen Fällen zu einer längeren individuellen Dauer der Arbeitslosigkeit führen und damit das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit erhöhen. Dieser Effekt ist theoretisch und – auch für Deutschland – empirisch gut belegt (Schäfer 2017).

Öffentlich geförderte Beschäftigung taugt in der Regel nicht als Instrument zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Als Lösungsansatz betrachtet Nahles des Weiteren den Ausbau eines sozialen Arbeitsmarktes. Auch hierüber kann die Evaluationsforschung nicht viel Gutes berichten. Öffentlich geförderte Beschäftigung taugt in der Regel nicht als Instrument zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt, weil Einsperreffekte eintreten: Die Geförderten reduzieren ihre Bemühungen, eine reguläre Beschäftigung zu finden. Nicht zuletzt deshalb wurde der Einsatz solcher Maßnahmen in der Vergangenheit deutlich zurückgefahren (Schäfer 2018).

Letztlich schlägt Nahles vor, durch Zuschüsse, Steuergutschriften und eine Erhöhung von vorgelagerten Sozialleistungen wie dem Wohngeld die Inanspruchnahme der Grundsicherung zu vermeiden. Dem wäre entgegenzuhalten, dass die Sozialversicherung kein geeigneter Ort der Einkommensumverteilung ist. Dafür ist das Steuersystem besser geeignet. Allerdings hat das Grundsicherungssystem in seiner gegenwärtigen Form den Vorteil, dass die Umverteilung weitgehend effizient erfolgt. Anspruchsberechtigt ist nur, wer auch bedürftig ist.

Habeck-Vorschläge

Das Konzept von Robert Habeck sieht als ein wesentliches Element die strukturelle Erhöhung der Grundsicherungsleistungen vor. Als Begründung wird angeführt, dass diese nicht zum Leben reichen. Nun ist die Höhe der Grundsicherung in erster Linie eine politische Entscheidung, keine ökonomische. Ob ein Betrag zum Leben reicht oder nicht, hängt von der Definition des Bedarfs ab, die wiederum abseits physiologischer Erfordernisse wie einer ausreichenden Ernährung nur politisch bestimmt werden kann.

Berücksichtigt werden sollte indes, dass hohe Grundsicherungsleistungen das Problem mit sich bringen, dass sie möglicherweise das Erwerbseinkommen geringproduktiver Arbeitnehmer überflügeln. Mit einem erhöhten Mindestlohn mag ein Lohnabstand zum Teil wiederhergestellt werden können, dies geht aber gegebenenfalls mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einher.

Ein weiterer Kernpunkt des Papiers basiert auf der zutreffenden Beobachtung, dass hohe Transferentzugsraten für Grundsicherungsempfänger den Anreiz begrenzen, das individuelle Arbeitsangebot auszudehnen. Als Lösung wird vorgeschlagen, den Freibetrag, der gegenwärtig bei 10 bis 20 Prozent liegt, auf „mindestens 30 Prozent“ auszudehnen. Die damit und mit der Erhöhung der Grundsicherungsleistungen verbundene Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten – die Rede ist von mindestens 4 Millionen Haushalten – und die daraus resultierenden Kosten seien hinzunehmen.

Das Problem der simplen Ausweitung des Freibetrages liegt indes nicht allein in der statischen Ausweitung des Empfängerkreises bis in mittlere Einkommen hinein. Problematisch ist vor allem ein dynamischer Effekt: Arbeitnehmer mit einem Verdienst oberhalb der Grenze, bis zu der Grundsicherungsleistungen gezahlt werden, reduzieren ihr Arbeitsangebot. Denn ein Teil des Verdienstverlustes wird durch die ergänzende Transferleistung ausgeglichen. Berechnungen des Sachverständigenrats, der 972 verschiedene Anrechnungsmodelle evaluiert hat, zeigen, dass sich die Ziele Partizipation, Arbeitsvolumen und Budgetneutralität nicht in Einklang bringen lassen (SVR 2010). Mit Sicherheit ist die Frage komplexer, als es der vorliegende Lösungsvorschlag nahelegt.

Zuständig für individuelle Bedürfnisse ist nicht mehr zuerst das Individuum selbst, sondern von Anfang an der Staat. Dies ist ein gefährlicher Weg, da der Gestaltungsanspruch des Staates bis in den privaten Bereich hineinwirkt.

In wenigen Sätzen skizziert das Papier eine weder hinreichend begründete noch in seiner Wirkung hinterfragte grundsätzliche Abkehr vom bisher geltenden Prinzip der sozialen Grundsicherung: Die Grundsicherungsleistung soll künftig nicht mehr von der Haushaltskonstellation abhängen, sondern „langfristig“ vollständig individualisiert werden. Angeführt wird das Beispiel von jungen Erwachsenen, die gegenwärtig geringere Leistungen erhalten, wenn sie im elterlichen Haushalt wohnen. Diese Regelung ist seinerzeit eingeführt worden, weil die Job-Center feststellen mussten, dass sich reihenweise Jugendliche ihren ersten eigenen Haushalt auf Kosten des Steuerzahlers einrichteten.

Die Individualisierung führt aber noch sehr viel weiter. Sie bedeutet in der letzten Konsequenz, dass nur noch das individuelle Einkommen für die Frage des Transferanspruchs entscheidend ist. Anspruchsberechtigt wäre zum Beispiel dann auch der Gatte einer gut verdienenden Zahnärztin, der selbst nicht erwerbstätig ist. Abgesehen davon, dass dies die wenigsten Menschen für gerecht halten würden, wird dadurch das Subsidiaritätsprinzip vollständig ausgehöhlt. Zuständig für individuelle Bedürfnisse ist nicht mehr zuerst das Individuum selbst und danach die Familie, sondern von Anfang an der Staat. Dies ist ein gefährlicher Weg, da der Gestaltungsanspruch des Staates bis in den privaten Bereich hineinwirkt.

Inkompatibilitäten

In einigen Punkten stehen sich die Konzepte von Nahles und Habeck inkompatibel gegenüber. Das betrifft erstens einen Kernaspekt des Habeck’schen Papiers, die Abschaffung der Sanktionen für Arbeitslose, die ihrer Kooperationspflicht mit dem Job-Center nicht nachkommen. Dabei geht es nicht allein um die Abschaffung der Sanktionierung von mangelnder Mitwirkung der Leistungsempfänger, sondern es soll von Anfang an gar keine Einforderung von Eigenbemühungen geben. Die Empfänger sollen die Beratungs- und Integrationsangebote der Job-Center nur annehmen, wenn sie es wollen.

Von dem Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens unterscheidet sich der Vorschlag mithin nur noch durch die erforderliche Bedürftigkeit – wobei auch diese offenkundig nicht allzu streng kontrolliert werden soll, da die vermeintliche komplette „Durchleuchtung“ von Antragstellern explizit kritisiert wird.

Sanktionen sind Ausdruck des Prinzips von Leistung und Gegenleistung. Unser Sozialstaat fragt nicht danach, wer die Schuld an einer Notlage trägt. Wer seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann, erhält die solidarische Hilfe der Gesellschaft. Die einzige Gegenleistung, die der Hilfeempfänger schuldet, ist das Bemühen, künftig ohne diese Hilfe auszukommen. Diese eher milde Form der Reziprozität dürften die meisten Menschen als gerecht empfinden.

Wer die Sanktionen abschafft, zwingt den Steuerzahler dazu, auch diejenigen zu finanzieren, die ihren Lebensunterhalt – aus welchen Gründen auch immer – nicht selbst bestreiten wollen.

Wer die Sanktionen abschafft, zwingt hingegen den Steuerzahler dazu, auch diejenigen zu finanzieren, die ihren Lebensunterhalt – aus welchen Gründen auch immer – nicht selbst bestreiten wollen. Die mittlerweile recht umfangreiche arbeitsmarktökonomische Forschung dazu konnte nachweisen, dass sanktionierte Hilfeempfänger schneller in Arbeit kommen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schlussfolgert in einer Aufarbeitung vorliegender Studien, dass Sanktionen durchaus mit verstärkten Bemühungen um die Aufnahme einer Erwerbsarbeit einhergehen (Bruckmeier et al. 2018, 10 f.). Allerdings – und das wird von Kritikern gern herausgestellt – bewirkt die Sanktionierung bei manchen auch einen Rückzug vom Arbeitsmarkt. Hieraus ein Problem abzuleiten ist jedoch abwegig. Wenn der Kontakt lediglich darin besteht, sich monatlich einen Scheck abzuholen, ist damit nichts gewonnen. Wer darüber hinaus die Hilfeangebote des Job-Centers bisher nicht nutzte, der wird dies erst recht nicht tun, wenn er dafür keine Sanktionierung zu erwarten hat.

Eine Abschaffung der Sanktionen verhindert, dass die Job-Center Eigenbemühungen effektiv einfordern können, und degradiert sie zu reinen Auszahlungsstellen. Damit ist weder den Job-Centern, noch den Empfängern geholfen. Manche Menschen brauchen einen Anstoß von außen, um wieder in ein ökonomisch selbstverantwortlich gestaltetes Leben zurückzufinden. Sie brauchen auf der einen Seite Unterstützung, auf der anderen Seite aber auch die Erkenntnis, dass etwas von ihnen erwartet wird. Wer Sanktionen abschaffen will, der überlässt diese Menschen ein Stück weit mehr sich selbst.

Andrea Nahles’ Position weicht von dem Vorschlag Habecks ab. Sie kritisiert in ihrem Beitrag zwar auch die Sanktionen als demotivierend – was von der Arbeitsmarktforschung klar widerlegt werden kann –, fordert auf der anderen Seite aber nicht deren Abschaffung. Sie sagt im Gegenteil, dass eine Sozialleistung immer auch „Mitwirkungsregeln“ brauche: „Niemand hätte Verständnis, wenn Regelverstöße ohne Konsequenzen blieben.“

Unterschiede in den Grundsicherungs-Konzeptionen treten auch in einem weiteren Punkt zutage. Während Habeck eine Integration verschiedener Sozialleistungen wie BAFöG oder Wohngeld in die Grundsicherung anstrebt, will Nahles diese Leistungen stärken, um zu verhindern, dass ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen entsteht.

Die Bündelung von Leistungen erscheint dabei als der geeignetere Weg, um anreizkompatible Grenzbelastungsverläufe sicherzustellen. Das gegenwärtige System mit vielen verschiedenen Sozialleistungen, die alle ihre eigenen Grenzbelastungen aufweisen und kaum aufeinander abgestimmt sind, führt zu unharmonischen Belastungsverläufen, die im schlimmsten Fall bewirken, dass eine Erhöhung des Bruttoeinkommens – zum Beispiel durch erhöhtes berufliches Engagement – zu einem Nettoeinkommensverlust führt (ZEW et al. 2017).

Unterschiedliche Vorstellungen entwickeln die Konzepte letztlich auch hinsichtlich der Frage, ob man Leistungen nach Möglichkeit pauschalieren sollte (Habeck) oder im Sinne einer Einzelfallgerechtigkeit individualisieren will (Nahles). Nahles möchte Personen, die „lange“ auf Grundsicherung angewiesen sind, die Möglichkeit geben, einmalige Anschaffungen wie einen Kühlschrank oder eine Winterjacke vorzunehmen.

Diese einmaligen Bedarfe auf Antrag, die es vor der Hartz-IV-Reform in der Sozialhilfe gab, wurden bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen und Sozialhilfe zugunsten einer Erhöhung des Regelsatzes gestrichen. Die Gewährung dieser einmaligen Bedarfe beanspruchte Verwaltungsressourcen, die in der Integration besser aufgehoben wären. Es ist nicht erkennbar, warum diese nachvollziehbare Argumentation an Gültigkeit verloren haben sollte. Die individuelle Betreuung in den Job-Centern ist ohnehin ausbaufähig. Die Situation würde nicht besser, wenn die Mitarbeiter sich zukünftig um die Bewilligung von Wintermantel-Ankäufen kümmern, statt um die Integration in Arbeit.

Fazit

Der Verdienst von Andrea Nahles und Robert Habeck liegt darin, die Debatte um die Ausgestaltung der Grundsicherung neu belebt zu haben. Konkrete Ideen und Vorschläge lassen sich faktengestützt diskutieren und dienen somit der Versachlichung. Leider sind die vorliegenden Vorschläge größtenteils ungeeignet. Sie beinhalten fast durchweg mehr Risiken als Chancen, wobei das Nahles-Papier das Bild einer veränderten, aber trotz neuen Namens am bestehenden Prinzip festhaltenden Sozialleistung skizziert.

Ziel der Vorschläge ist größtenteils immerhin die Wiedereingliederung in Arbeit und damit die Wiedergewinnung der Selbstverantwortung der Leistungsempfänger. Einige Vorschläge des Papiers von Robert Habeck sind durchaus diskussionswürdig. Die Pauschalierung von Leistungen kann Ressourcen für Eingliederungshilfen frei machen und die Bündelung verschiedener Sozialleistungen kann ebenso wie die Neugestaltung der Freibeträge Anreize stärken.

Als gefährlich dagegen erscheint die Idee einer weitgehend bedingungslosen Gewährung von Leistungen. Das Ergebnis wäre ein Sozialstaat, der keine Eigenverantwortung einfordert und daher auch nicht glaubhaft fördern kann. Die Loslösung der Bedürftigkeit vom Haushaltskontext, die Erhöhung der Leistungen und die undifferenzierte Erhöhung von Freibeträgen führen zu einer Abkehr der Subsidiarität und stattdessen zu einer Ausweitung der Abhängigkeit vom Sozialstaat bis in die Mitte der Gesellschaft.

 

Literatur

Bruckmeier, Kerstin / Kruppe, Thomas / Kupka, Peter / Mühlhan, Jannek / Osiander, Christopher / Wolff, Joachim, 2018, Sanktionen, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung in der Grundsicherung, IAB-Stellungnahme 5/2018, Nürnberg

Dustmann, Christian / Fitzenberger, Bernd / Schönberg, Uta / Spitz-Oener, Alexandra, 2014, From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 28, 1, S. 167-188

Habeck, Robert, 2018, Anreiz statt Sanktionen, bedarfsgerecht und bedingungslos, 19.11.2018

Kalina, Thorsten / Weinkopf, Claudia, 2018, Niedriglohnbeschäftigung 2016 – beachtliche Lohnzuwächse im unteren Lohnsegment, aber weiterhin hoher Anteil von Beschäftigten mit Niedriglöhnen, IAQ-Report Nr. 6, Duisburg

Nahles, Andrea, 2018, Für eine große Sozialstaatsreform, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.11.2018, S. 10

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), 2010, Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/11, Wiesbaden

Schäfer, Holger, 2017, Reform der Arbeitslosenversicherung. Eine Bewertung aktueller Reformvorschläge, IW-Policy-Paper 19/2017, Köln

Schäfer, Holger, 2018, Langzeitarbeitslosigkeit. Entwicklung, Ursachen und Lösungsansätze, IWPolicy- Paper 6/2018, Köln

Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) / Peichl, Andreas / Buhlmann, Florian / Löffler, Max, 2017, Grenzbelastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem, Inklusives Wachstum für Deutschland 14, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh

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