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Wir sind nicht zukunftsfähig! – Plädoyer für eine praktizierte Solidarität aus verantworteter Freiheit

Wir brauchen so etwas wie eine Agenda 2030, meint der Kuratoriumsvorsitzende der INSM Wolfgang Clement. Und in diese Agenda gehöre eine neue Sozialstaatspolitik. Denn die aktuelle Politik sei gerade dabei, die Grenzen der Leistungsfähigkeit und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit unseres Gemeinwesens zu überschreiten.

Die Soziale Marktwirtschaft, die übrigens im deutsch-deutschen Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 erstmals und durchaus detailliert mit Gesetzeskraft ausgestattet  wurde, hat bekanntlich in der katholischen Soziallehre ebenso wie in der protestantischen Ethik, aber auch im Neoliberalismus ihre Wurzeln. Sie ist in meinem Verständnis das beständige Bemühen, die verantwortete Freiheit aller, namentlich von Unternehmern wie Arbeitnehmern wie Verbrauchern, auf dem prinzipiell freien Markt der Möglichkeiten und den sozialen Ausgleich miteinander zu verbinden und nach den Prinzipien der Personalität, der Subsidiarität und der Solidarität und unter Wahrung des Gemeinwohls zu gestalten.

Solidarität – wir könnten auch von Nächstenliebe oder Brüderlichkeit sprechen – das war einst auch ein Kampfbegriff der Arbeiterbewegung. Es bezeichnet im Kern nichts Anderes als das füreinander Eintreten in einer Gemeinschaft. Im Staat heutiger Facon umfaßt der Begriff Solidarität hingegen das Gesamtverhältnis zwischen dem und der Einzelnen und dem Gemeinwesen. Also: Die Verantwortung des und der Einzelnen für sich und die ihnen Anvertrauten und die Verantwortung des Gemeinwesens für den Zusammenhalt der Vielen in unserem Land, eine Verantwortung, die – nicht nebenbei gesagt – auch für die Zugewanderten, die zu uns Geflüchteten gelten muss.

Nun verändert sich die Welt rasend schnell – Stichworte: Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz. Und auch unsere Gesellschaft verändert sich tiefgreifend: Wir leben immer länger, aber wir werden – jedenfalls ohne kräftige Zuwanderung (oberhalb heutiger „Obergrenzen“) – zugleich  immer weniger. So stellt sich die Frage, ob wir so, wie unser Land heute dasteht, zukunftsfähig sind  – gesellschaftlich, wirtschaftlich und eben auch sozial?

Meine Antwort ist ein klares Nein. Ich bin überzeugt, wir brauchen eine grundlegende Remedur, aufs Ganze gesehen tatsächlich so etwas wie eine Agenda 2030. Und in diese Agenda gehört auch eine neue Sozialstaatspolitik. Denn eine Politik, die soziale Wohltaten wie aus dem Füllhorn übers Land ausschüttet (wie die von einer Bedürftigkeitsprüfung freie „Mütterrente“ oder die von Bundesminister Hubertus Heil vorgesehene, ebenso Bedürftigkeits-freie „Respekt-Rente“), ist weder im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft, noch ist sie Ausdruck von Solidarität, noch ist sie längerfristig verantwortlich finanzierbar. Sie ist sogar gerade dabei, die Grenzen der Leistungsfähigkeit und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit unseres Gemeinwesens zu überschreiten.

Welche grundlegend notwendigen Veränderungen unseres Sozialstaats sind gemeint. Ich will hier nur die mir Wichtigsten nennen:

Es geht zuallererst und vor allem anderen um die Erneuerung unseres Bildungswesens. Denn das Gegenwärtige kommt in internationalen Vergleichsstudien nicht sonderlich beeindruckend zur Geltung. Und, was noch sehr viel bedrückender ist, es lässt in seinem heutigen Zustand zu viele Kinder und Heranwachsende nicht nur, aber vor allem aus den sogenannten bildungsfernen Schichten scheitern. Es vernachlässigt und vergeudet zu viele der Talente (mehr als in nahezu allen vergleichbaren Ländern), die in jedem Menschen stecken. Es  verletzt gröblich das Prinzip der Chancengerechtigkeit und ist deshalb alles andere als solidarisch.

Das zu korrigieren, ist natürlich nicht nur ein finanzielles Problem, aber das ist es auch: Nach den Feststellungen der OECD investieren Bund, Länder und Gemeinden heute zusammen pro Jahr rund 30 Milliarden Euro weniger als der OECD-Durchschnitt der Länder in Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Deshalb sage ich gerade an die Adresse derer, die heute so lauthals über einen neuen Sozialstaat reden: Eine Bildungs- und Weiterbildungspolitik auf der Höhe der Zeit, das ist die beste Arbeitsmarktpolitik. Das ist moderne, nämlich vorbeugende, prophylaktische Sozialpolitik. Es gibt nichts Wichtigeres! Nicht Hartz IV, sondern unser gesamtes Bildungswesen gehört runderneuert.

Das Tempo der Veränderungen unserer Wirtschaft wird noch erheblich zunehmen. Deshalb braucht unternehmerisches Handeln als entscheidende Quelle unseres Wohlstandes Handlungsspielraum und dazu ein Mindestmaß an Flexibilität, auch auf dem Arbeitsmarkt. Und genau deshalb verlangt diese Veränderungsdynamik der Wirtschaft eine permanente Weiterqualifizierung der Arbeitnehmerschaft. Da kann es Sinn machen, die Arbeitslosenversicherung längerfristig zu einer Art Arbeitsversicherung mit Anspruch auf Weiterbildung zu entwickeln. Doch Weiterbildung in concreto muss in erster Linie Aufgabe der Unternehmen und der Sozialpartner bleiben, der Gesetzgeber sollte hier rahmensetzend und fördernd tätig werden.

Diese Sozialpartnerschaft ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft, ein Grundpfeiler des Zusammenhalts in unserem Land. Sie darf nicht weiter geschwächt, sie muss angesichts der großen Veränderungen, in denen wir uns befinden, unbedingt gestärkt werden. Das aber ist die Verantwortung der Sozialpartner, der Tarifparteien und nicht des Gesetzgebers! Deshalb war und bin ich gegen den gesetzlichen Mindestlohn. Wer den Gesetzgeber einmal zu Gast hat, der wird ihn nicht mehr los. Das zeigt sich schon jetzt in den immer weitergehenden und höher reichenden Forderungen aus der Politik, die – vielleicht nicht stets bewusst –  die Tarifpolitik „von unten“ zu demontieren beginnen. Ich wende mich ausdrücklich an die Adresse der Gewerkschaften: Stärkt Eure Freiheit, die Freiheit der Tarifparteien, statt immer öfter nach dem Gesetzgeber zu rufen. Tarifautonomie ist Ausdruck verantworteter Freiheit. Sie ist das wichtigste Stück praktizierter Solidarität!

Das aktuell schwierigste Thema betrifft aus meiner Sicht  unsere Sozialsysteme, die verhindern helfen sollen, dass Menschen in existenzielle Not geraten, die aber in ihrer heutigen Ausgestaltung jedenfalls langfristig nicht zukunftssicher sind. Und das gilt erst recht, wenn wir uns weiterhin scheuen auszusprechen, was aus Gründen der Generationengerechtigkeit und damit der Solidarität zwischen den Generationen unabweisbar ist, nämlich: Die Lebensarbeitszeit mit der weiter steigenden Lebenserwartung zu erhöhen, also bis zum Jahr 2050 auf fast 70 Jahre!

Noch ein persönlicher Hinweis: Der künftige Bonner Stadtdechant Wolfgang Picken, der im Godesberger „Rheinviertel“ eine der wirkmächtigsten Bürgerstiftungen in Deutschland initiiert hat, sagt in seinem kürzlich erschienenen Buch „WIR – Die neue Zivilgesellschaft“ wörtlich: „Unser Pflegesystem ist heute schon kollabiert“. Und er meint damit, dass es nicht in der Lage ist, die Pflege all derer, die schon heute und erst recht künftig darauf angewiesen sind, menschenwürdig zu gewährleisten.

Die Antwort von Pfarrer Picken läuft auf eine Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Engagements in wirkungsvollen, in wirkmächtigen Dimensionen hinaus.  Einzelbeispiele dafür gibt es schon allüberall im Land (Neben der genannten Bürgerstiftung beispielsweise: „Dein Nachbar.de“).

Was wir benötigten, das wäre eine neue bürgerschaftliche, durchaus professionell zu steuernde ehrenamtliche Bewegung, eine Besinnung auf das Gemeinwohl als gemeinsame Aufgabe zur Unterstützung der Menschen, die auf pflegende Hilfe angewiesen sind.

Die Zivilgesellschaft tritt bisher entweder als Korrektiv der uns Regierenden oder aber als Anspruchsgesellschaft mit Forderungen nach einem Mehr an sozialen, ökologischen oder wirtschaftlichen Leistungen auf. Tatsächlich aber gehört diese Zivilgesellschaft in die Mitverantwortung, und naheliegend wäre, dass dies zuerst auf dem Gebiet der Pflege zum Ausdruck käme, und zwar nicht nur den Staat ergänzend, sondern selbstbewusst und aus eigenem Tun! Praktizierte Solidarität aus verantworteter Freiheit – das hieße, den Zusammenhalt im Lande nicht nur dauernd zu beschwören, sondern zu leben.

Der Beitrag ist die leicht überarbeitete und gekürzte Fassung der Eröffnungsrede von Wolfgang Clement bei der INSM-Veranstaltung “Solidarität in der Sozialen Marktwirtschaft” am 25. Februar 2019 in Berlin mit Armin Laschet, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, und Prof. Dr. Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender Evangelische Kirche in Deutschland

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