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Herzstück der EU: Wie viel Wohlstand bringt der Binnenmarkt?

Wie wirkt sich der EU-Binnenmarkt auf unseren Wohlstand aus?  Berthold Busch blickt im Rahmen unserer Serie "Europa macht stark" auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des EU-Binnenmarkts.

Dr. Berthold Busch: Besonders kleine Mitgliedsstaaten profitieren vom großen EU-Binnenmarkt

Der Binnenmarkt der Europäischen Union (EU) war schon in dem im Jahr 1957 geschlossenen Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unter dem Begriff des „Gemeinsamen Marktes“ vereinbart worden. Zwar wurden bis 1968 die Zölle im Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten stufenweise abgeschafft. Als schwierig erwies sich aber die Beseitigung der sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse, wie unterschiedliche Produkt- und Herstellungsvorschriften, die den freien Warenverkehr behinderten. Auch bei den anderen Freiheiten des Binnenmarktes, dem freien Personen-, Dienstleistungs– und Kapitalverkehr, war es recht mühsam, die bestehenden Hemmnisse zu beseitigen. Der europäische Einigungsprozess kam ins Stocken.

Wichtige Impulse für die Vollendung des Binnenmarktes der EU brachte der Europäische Gerichtshof mit verschiedenen Urteilen. Ein Meilenstein war die Entscheidung im Fall Cassis de Dijon. Hier prägte der Gerichtshof den Grundsatz, dass Produkte, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, auch in allen anderen Mitgliedstaaten verkehrsfähig sind. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nationaler Produktvorschriften wurde besonders von der EU-Kommission aufgenommen, um von der langwierigen Harmonisierung nationaler Produktvorschriften wegzukommen.

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 wurde das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Vorschriften in das europäische Vertragswerk übernommen und der EU-Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen definiert, „in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital … gewährleistet ist“. Als offizielles Datum der Binnenmarktvollendung wurde der 31. Dezember 1992 vereinbart. Außerdem wurde in vielen Bereichen die notwendige Einstimmigkeit im Ministerrat durch eine qualifizierte Mehrheit ersetzt, sodass Gesetzgebungsvorschläge der Kommission nicht mehr durch einzelne Mitgliedstaaten blockiert werden konnten.

Die weitere Entwicklung hat freilich gezeigt, dass der Binnenmarkt der EU kein statisches Projekt ist, das ein für alle Mal vollendet werden kann. Die Binnenmarktvollendung muss vielmehr als ein Prozess betrachtet werden, der nicht an ein Ende kommt. Vor allem bei den Dienstleistungen sind die Fortschritte zu einem echten Binnenmarkt weniger weit vorangekommen. Unternehmen, die grenzüberschreitend Dienstleistungen erbringen wollen, müssen oft bürokratische Hürden im Erbringungsland überwinden. Neue Entwicklungen wie die Digitalisierung stellen überdies die EU-Politiker vor neue Herausforderungen bei der Beseitigung von Hemmnissen, die einem digitalen Binnenmarkt im Wege stehen.

Die Wirkungen des EU-Binnenmarktes sind vielfältig (Busch, 2009; 2013; Busch/Matthes, 2016). Der EU-Binnenmarkt bietet viele Vorteile: Mehr Wettbewerb durch grenzüberschreitende Konkurrenz wirkt nationalen Monopolen und überhöhten Preisen entgegen; das kommt den Verbrauchern zugute. Positiv für Verbraucher ist auch, dass ihre Wahlmöglichkeiten größer werden. Das gilt auch für die Unternehmen beim Bezug von Vorprodukten. Für Unternehmen entsteht zudem ein größerer Absatzmarkt. Dadurch können sie Größenvorteile in der Produktion realisieren und damit die Stückkosten senken. Der verschärfte Wettbewerb hält die Unternehmen zu Produkt- und Prozessinnovationen an, um sich gegen die Konkurrenz behaupten zu können.

Es ist immer wieder versucht worden, die Vorteile des Binnenmarktes zu quantifizieren; obwohl dies mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten verbunden ist. Eine der jüngsten Untersuchungen stammt von einem Mitarbeiter der EU-Kommission (Veld, 2019). Dabei wird eine kontrafaktische Situation modelliert, bei der wieder Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten eingeführt werden. In diesem Fall fiele das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt der 28 EU-Mitgliedstaaten langfristig um knapp 9 Prozent niedriger aus. Deutschland liegt mit einem Minus von knapp 8 Prozent leicht unter dem EU-Durchschnitt.

Die Untersuchung zeigt, dass besonders kleine Mitgliedstaaten vom großen EU-Binnenmarkt profitieren. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächlichen Vorteile des Binnenmarktes noch höher ausfallen, da die zitierte Untersuchung nicht alle Dimensionen des Binnenmarktes erfasst hat. Der wirtschaftliche Nutzen des Binnenmarktes könnte noch gesteigert werden, wenn der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr weiter liberalisiert würde und mehr nationale Vorschriften für die Erbringung von Dienstleistungen gegenseitig anerkannt würden. Eine Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments schätzt das Potential für eine weitere Vertiefung des Binnenmarktes in diesem Bereiche auf eine Größenordnung von fast 370 Milliarden Euro (Pelkmans, 2019).

Der Binnenmarkt der EU mit den vier Freiheiten kann als Herzstück der europäischen Integration betrachtet werden. Er war überdies Nukleus für die Währungsunion und den Euro. Der Binnenmarkt kann jedoch nur richtig funktionieren, wenn er von anderen Politikbereichen der EU unterstützt wird. Dazu zählt die Wettbewerbspolitik der EU, die nicht nur gegen private Wettbewerbsbeschränkungen, sondern auch gegen staatliche Wettbewerbsverzerrungen vorgeht. Dazu gehören auch die Infrastrukturpolitik (siehe  Blogbeitrag “Bessere Infrastruktur statt Agrarsubventionen: Wohin sich die Europäische Union entwickeln muss“) und die Verkehrspolitik der EU. Ohne leistungsfähige Verkehrsverbindungen wird vor allem der freie Warenverkehr in der EU nicht richtig funktionieren können. Dies hat auch die Diskussion um die Vorbereitungen der Unternehmen auf die logistischen Herausforderungen des Brexits für die grenzüberschreitenden Lieferketten gezeigt.

Literatur