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Freiheit in Europa!

Die kommende Europawahl wird schon als Schicksalswahl gehandelt. Dieser Begriff mag zu dramatisch sein. Doch in der Tat findet diese Wahl unter bedrohlicheren Umständen statt, als Nachkriegsgenerationen das gewohnt waren. Die Europäische Union (EU) ist von außen wie von innen unter erheblichen Druck geraten. Man muss sich um das große Projekt sorgen, um die Sicherung des Friedens und die Einübung der Völkerverständigung, um die Förderung des Wohlstands und die Garantie der Freiheit in Europa. Denn nichts anderes ist die EU, unbeschadet aller notwendigen Kritik: eine gemeinsame Anstrengung in liberalem Geist. // (Hier finden Sie alle Folgen der Serie „Europa macht stark“.)

Außen hat sich die geopolitische Lage zuungunsten Europas verändert. Autoritäre Mächte wie Russland und China nehmen keinerlei Rücksichten, und spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten sind die Europäer die Verlässlichkeit ihres einst wichtigsten Verbündeten weitgehend los. Sie sind in eine ganze Serie von Handelskonflikten verwickelt, und der Multilateralismus steht unter Dauerbeschuss.

Im Innern der Europäischen Union haben im Brexit-Votum der Briten neue Zentrifugalkräfte einen traurigen Wendepunkt herbeigeführt: das Erstarken von vor allem rechtem Populismus und Nationalismus, von Isolationismus und Abschottungsstreben. In Polen und Ungarn muss man um Rechtsstaat und Pressefreiheit fürchten, Italien schwebt finanziell am Abgrund und inszeniert sich renitent.

Ohnehin liegt in der EU – und im Euro-Raum – manches im Argen: zu viel Bürokratie, zu wenig Bürgernähe, zu wenig Transparenz, zu viel Regulierung, zu viel Vereinheitlichung; ein hypertroph gewachsener Rechtsbestand, der sich nur schwer aufdröseln und im Bedarfsfall auch nur teilweise rückabwickeln lässt. Der Brexit, der Europa noch lange beschäftigen wird, hat nicht nur vor Augen geführt, wie lohnend der Verbleib in der EU ist, sondern vor allem auch, wie stramm gefesselt ist, wer erst einmal Mitglied war. Und in der Währungsunion hat der Euro so manches Mitglied überfordert oder übervorteilt, was neue Animositäten schürt.

Aus freiheitlicher Perspektive ist rasch grob skizziert, was vor diesem Hintergrund zu tun wäre: Man sollte nach Wegen suchen, supranationale Kompetenzen im Sinne der Subsidiarität abzuschmelzen und den noch verbliebenen Systemwettbewerb zu stärken. Gleichzeitig gibt es aber auch Politikfelder, in denen man die EU durchaus einiger und handlungsfähiger sehen möchte. Weniger Agrarsubventionen, aber mehr und bessere gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik; keine aufgeblasenen Wachstumsziele und Sozialbudgets, dafür aber eine funktionsfähige Strategie zum Umgang mit Migration und Flucht – das wäre nicht schlecht.

Doch das europäische Fahrrad, von dem der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors einst gesagt hat, es falle um, wenn man es anhalte – es wackelt derzeit bedenklich. Die Wahlbeteiligung Ende Mai wird zeigen, wie viel den Unionsbürgern Europa bedeutet, ganz gleich, ob sie die EU lieben, kritisch sehen oder abschaffen wollen. Die Entwicklung der politischen Großwetterlage könnte die Menschen für Europa sensibilisiert haben, nach einer langen Zeit schrumpfenden Interesses. Die Wahlbeteiligung an den Europawahlen ist bisher stetig gesunken, von knapp 62 Prozent 1979 im EU-Durchschnitt bis auf nur noch wenig mehr als 42 Prozent 2014. In Deutschland lagen die Zahlen bei identischem Abwärtstrend dabei immer ein wenig höher als im Durchschnitt, bei fast 66 Prozent 1979 und gut 48 Prozent 2014. Doch zum Vergleich: In der Bundestagswahl 2017 lag die Beteiligung bei 76,2 Prozent.

„Die Entwicklung der politischen Großwetterlage könnte die Menschen für Europa sensibilisiert haben, nach einer langen Zeit schrumpfenden Interesses.”

Anders als es die zugespitzte politische Debatte und das Erstarken nationalistischer Kräfte in den Mitgliedstaaten vermuten lassen, ist die Zustimmung zur EU unter den Bürgern aber grundsätzlich gar nicht so schwach. Nach der Eurobarometer-Umfrage vom Jahresende haben derzeit immerhin 43 Prozent der Unionsbürger ein positives Bild von der EU, in Deutschland sind es 47 Prozent – Tendenz steigend. Auch das viel beklagte „Demokratiedefizit“ schreckt die Leute nicht so sehr, wie es Studien befürchten lassen. Fast die Hälfte der Unionsbürger ist der Ansicht, dass „ihre Stimme in der EU zählt“; in Deutschland sind es sogar 70 Prozent.

Das lässt aufatmen. Denn trotz allem ist die EU ein überaus erfolgreiches, einzigartiges, schützenswertes Projekt, an dessen Wurzel das Jahrhundertwerk des Binnenmarkts steht. Das billigt zum Beispiel selbst der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger in seiner Philippika „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“ zu: „Der Prozeß der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert…. Ferner muß man es unseren Brüsseler Beschützern danken, daß sie nicht selten wacker vorgegangen sind gegen Kartelle, Oligopole, protektionistische Trickserein und unerlaubte Subventionen.“ Das ist beileibe nicht nichts.

Der Binnenmarkt selbst ist zwar noch nicht vollendet. Und er ist gewiss auch noch nicht alles, was aus Europa werden kann. Aber er funktioniert, er schafft Wohlstand, und vor allem ist in dem ihn konstituierenden Recht das freiheitliche Fundament der Union fest verankert. Er fußt auf den vier Grundfreiheiten, allesamt Abwehrrechte, die Selbstbindungen der Staaten bewirken: auf dem freien Verkehr der von den Bürgern gehandelten Waren, Dienstleistungen und Anlagemittel sowie auf ihrer eigenen Mobilität, der Personenfreizügigkeit. Die vier Grundfreiheiten räumen die von den Staaten im Laufe ihrer Geschichte selbstgemachten Hindernisse im Wirtschaftsverkehr der Menschen Stück für Stück aus dem Weg und stellen damit im Kern die persönliche Freiheit der Bürger auf weiteren Raum als je zuvor. Sie ermöglichen dem Homo europaeus ein Leben als freier und selbstverantwortlicher Mensch.

Gemeinsam schärfen alle vier Grundfreiheiten den Wettbewerb und steigern den Wohlstand. Dass dieses Konvolut aber dennoch nicht allein vom ökonomischen Ende her gedacht ist, vom größeren Markt, den die Produzenten und Händler bespielen können; vom Wettbewerb, der die Preise zugunsten der Verbraucher senkt; vom besser schockresistenten Kapitalmarkt – das zeigt besonders deutlich der Fall der Personenfreizügigkeit. Denn gerade deren Wirkung geht als Recht über das rein Wirtschaftliche weit hinaus. Für die Vielfalt der Lebensentwürfe, die den Menschen offenstehen, ist die Personenfreizügigkeit noch essenzieller, als dass man Waren und Dienstleistungen überall in der EU anbieten und Geld anlegen oder leihen kann.

„Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben“, soll Jacques Delors einmal gesagt haben. Das ist wohl nachvollziehbar, zumindest wenn man nicht den Blick dafür zu weiten mag, dass mit den wirtschaftlichen Freiheitsrechten eben auch schon der systemische Pflock für den Rest fest eingeschlagen ist. Aber an ihrer Bewegungsfreiheit hängen die Leute schon, an den damit zusammenhängenden Optionen für den persönlichen Werdegang, an der Unabhängigkeit und Selbstverantwortung, die sie ihnen erlaubt. Nach der Eurostat-Erhebung befürworten daher auch 92 Prozent der Befragten in Deutschland die Personenfreizügigkeit, in der gesamten EU sind es 83 Prozent. Allerdings hat dieses Recht für die meisten EU-Bürger vor allem Optionswert; nur rund 3 Prozent machen davon in ihrem Leben auch tatsächlich Gebrauch.

Man würde sich wünschen, dass es im Laufe der Zeit mehr werden. Das große Projekt, in Europa den Frieden zu erhalten, die Freiheit zu garantieren und gemeinsam gegenüber einer immer bedrohlicheren Welt handlungsfähig zu bleiben, hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn auch das Verständnis der Bürger füreinander weiter zunimmt. Das aber setzt voraus, dass man regelmäßig miteinander zu tun hat, dass man sich kennenlernt, dass man individuell in die Lebenswirklichkeit der Menschen in den anderen Ländern eintaucht – und das nicht nur als Tourist. Nur mit konkreter Anschauung können jenes europäische Bewusstsein und jene europäische Öffentlichkeit wachsen, von denen bisher noch viel zu selten etwas zu spüren ist.

Alle Folgen der Serie „Europa macht stark“ lesen.

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