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Mehr Mut zur Fehlerkultur

Das Land der Dichter und Denker und vor allem der Erfinder ⎼ das ist Deutschland. Oder besser gesagt, das war Deutschland. Warum uns der Erfinder-Elan verloren gegangen ist und was sich ändern muss, zeigt Wolf Lotter in seinem neuesten Essay.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass Deutschland in puncto Modernität, Schnelligkeit und Präzision international den Anschluss verloren hat. Milliarden teure Bau-Fehlplanungen gehören mittlerweile zur Normalität. Der überfällige Ausbau der Breitbahnnetze schleppt sich nach wie vor hin, und auch die Mehrheit der deutschen Arbeitnehmer benimmt sich im Zeitalter des Digitalen immer noch wie die Belegschaft einer Fabrik der 1950er- und 60er-Jahre: Alle fahren morgens zur gleichen Zeit zur Arbeit und am Spätnachmittag wieder zurück. Die Arbeitskultur, für die freilich auch die Arbeitgeber verantwortlich sind, will sich einfach nicht ändern.

Dass sich bei Berlins neuem Airport BER, der aufgrund seiner Dauer-Nichtinbetriebnahme zynisch schon der CO2-freieste und damit grünste Flughafen der Welt genannt wird, nichts tut, liegt weniger an einem Mangel an Planung, sondern „es geht um ein Defizit an der Fähigkeit zur Improvisation und zur Anpassung an neue Gegebenheiten“, meint der Wirtschaftsjournalist, Essayist und Buchautor Wolf Lotter.

Anders ausgedrückt: Es fehlt schlichtweg die Fähigkeit zur Innovation. Lotters flott geschriebener und nun auf 220 Seiten erschienener Essay „Innovation ⎼ Streitschrift für barrierefreies Denken” ist nicht nur ein Aufschrei über die im Koma liegende deutsche Tugend der Erfinder- und Erneuerungsfähigkeit, sondern auch ein Plädoyer für ihre Wiedergeburt. Lotter fordert: Weniger Komfortzonen, mehr Chancen für Querdenker, weniger Routine, mehr Mut zur Fehlerkultur: „Probieren, Lernen. Weitergehen ⎼ und von vorn.“

Inklusive Innovationskultur

Lotter ist weit davon entfernt, in wohlklingenden Managementphrasen die Welt der Innovation zu preisen und jedem Werktätigen die Maxime zur Lebensveränderung ins Gewissen zu predigen. Denn auch hier, so der Autor, gilt der alte Satz: Jeder nach seinem Bedürfnis, jeder nach seiner Fähigkeit.

So analysiert Lotter zunächst scharf und treffend, was in deutschen Unternehmen zur Verlangsamung der Innovationsprozesse führt, und stellt fest: „Eine Innovationskultur für die Wissensgesellschaft, die wirklich barrierefrei ist, ist eine inklusive Innovationskultur ⎼ oder gar keine. Sie nutzt alle geistigen und kreativen Ressourcen.“ Technische, soziale und kulturelle Innovation gehören für ihn zusammen. Sie bedingen sich. Denn Lotter ist überzeugt: „Wo Menschen beispielsweise durch Wohlstand mehr Freiräume und Individualität einfordern, entstehen durch die damit verbundenen sozialen und kulturellen Erneuerungen auch neue technische Lösungen.“

Denken steckt in Routinen fest

Die Aufgabe der Innovation sei nicht eine „Systemzerstörung“, sondern die „Systemstörung“. Denn barrierefreies Denken will nicht Tabula rasa mit allen vertrauten Gewohnheiten machen, sondern baut auf Vernunft und Fakten ⎼ und lässt zugleich Chancen und Irrtümer zu. Deutsche denken zu sehr in Perfektion und Eindeutigkeit statt in „mehrdeutigen Möglichkeitsräumen“. Lotter: „Es herrscht geradezu eine korporatistische Inzucht im [deutschen] Management, bei dem ein Bürokrat dem nächsten den Stab in die Hand drückt ⎼ auf Kosten der Kreativität und Innovationsfähigkeit der ganzen Organisation und der Menschen in ihr. Das ist kein Leadership, sondern ein permanenter Putsch gegen ihre Entwicklungsfähigkeit von Menschen und ihren Unternehmen.“ Unser Denken stecke in Routinen fest. Die Entscheider müssten erst wieder den Unterschied zwischen einer „Wiederholung“ und einer „Erneuerung“ begreifen.

Lotter greift auf Daniel Kahnemann Buch „Schnelles Denken. Langsames Denken“ zurück, indem er das Routinedenken zwar für notwendig und ausreichend für viele Bereiche des Lebens erachtet, doch für Bildung und Kreativität, die zur Innovation führen, sei das hintergründige, langsame und damit auch mühsamere Denken unabdingbar. „Das schnelle Denken muss durch das langsame Denken hinterfragt werden. Das ist ein wesentlicher Mechanismus hinter der Innovation. Nur wo es normal ist, selbst zu denken, wird Innovation überhaupt entstehen können.“

Ambiguitätstoleranz

Die Realität in deutschen Firmen sieht häufig anders aus: In Unternehmen entscheiden oft allein die Meister der Routine, die sogenannten Mitläufer, über Talente und Innovation, meint Lotter. Diese holten nur Gleichgesinnte und keine Quergeister, die für Innovation unumgänglich seien, also keine Menschen, die Routinen durchbrechen und stören könnten. Mehr „Ambiguitätstoleranz“ ⎼ wie Nassim Nicholas Taleb es nannte ⎼ ist also mal wieder gefragt: das Aushalten von verschiedenen Positionen. Wenn Konsens die Leitkultur ist, kann nur Nonsens herauskommen. „Die Innovationsgesellschaft stellt Selbstbestimmung über Komfortzonen, das tätige Individuum über kollektivistische Scheinsicherheit“, meint Lotter.

Mehr Mut also zur Fehlerkultur und zum selbstständigen Denken ⎼ das lässt sich freilich alles unterschreiben. Doch einen Mentalitätswandel wird es hierzulande so schnell nicht geben. Es fängt schon damit an, dass sich die allermeisten Deutschen für eine Anstellung in Unternehmen und Betrieben entscheiden ⎼ und zum Beispiel nicht Entrepreneur werden wollen. Nur ein Bruchteil (je nach Statistik zwischen zwei und fünf Prozent der deutschen Arbeitnehmer) geht überhaupt das Risiko ein, als Selbstständige (darunter Existenzgründer, Kreative, Ärzte, Anwälte, Therapeuten) zu arbeiten. Deutschland hat eine der niedrigsten Selbstständigen-Quote in ganz Europa.

Fazit

Lotters Buch motiviert und macht darum Spaß zu lesen. Lotter gelingt es, die wesentlichen Elemente, die zur erfolgreichen Innovationskultur führen, kompakt und unterhaltsam zu bündeln. Es ist ein Buch, das jede Führungskraft lesen sollte, wenn sie sich nicht vorwerfen lassen möchte, ein mutloser Mitläufer zu sein.

Wolf Lotter: Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken. Hamburg 2018, Edition Körber

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