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Wohlstand in der Breite: Was macht den Kapitalismus erfolgreich?

Gerne wird über den Kapitalismus geklagt. Nicht so Werner Plumpe. Der Wirtschaftshistoriker ist überzeugt, dass kapitalistisches Wirtschaften für die Qualität unseres Lebens wichtige und gute Lösungen liefert, die mit anderen Systemen nicht zu erreichen wären. Es komme nämlich darauf an, was wir aus den Gegebenheiten machen. Wer als Leser jetzt glaubt, er habe es hier mit einer prokapitalistischen Provokation zu tun, irrt ⎼ und sollte das Buch lesen. Es sind allerdings 800 Seiten.

Es ist eine alte Geschichte: In Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ von 1827 verkauft der sogenannte Kohlenmunk-Peter seine Seele an den bösen „Holländermichel“ und darf sich fortan ein reicher Mann nennen. Doch Sitten- und Maßlosigkeit, das kaltherzige Streben nach Status und Reichtum treiben den Kohlenmunk-Peter bald in den Ruin. Die in dem romantischen Märchen verkappte Kapitalismuskritik ist der Grund, warum nun der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe seine höchst fleißige und wertvolle Arbeit über die vierhundertjährige Geschichte und Wirkung des Kapitalismus mit „Das kalte Herz“ betitelt hat. Anders alsder Titel vermuten lässt, sieht Plumpe im Kapitalismus jedoch kein auf Raffgier- und Seelenlosigkeit beruhendes System des Wirtschaftens und Handelns, sondern im Gegenteil die bisher einzige Chance, um Volkswirtschaften wie wir sie heute kennen, Wohlstand zu ermöglichen und von Massenarmut zu befreien. Freilich kann ein kapitalistisches System wie in Hauffs Erzählung zum Übel führen. Doch es kommt darauf an, sagt Plumpe, was die Menschen daraus machen.

Plumpe, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt und Träger des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik, lädt auf rund 800 Seiten zu einem Rundgang über die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus ein: beginnend im 17. Jahrhundert zur Dynamik des Kapitalismus im 19. Jahrhundert und zu seiner Bedeutung zwischen den Weltkriegen, zum wirtschaftlichen Nachkriegsboom, Fortschrittsoptimismus und gesellschaftlichen Aufbruch in den „Trente Glorieuses“ (1945 bis 1973) bis zur Liberalisierung der Weltwirtschaft und dem Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart.

Zunächst entwickelte sich der Kapitalismus in Nordwesteuropa (insbesondere in den Niederlanden und Großbritannien) zum Erfolgsmodell und brach sich von dort aus dynamisch in anderen Ländern Bahn, zum einen „durch Nachahmung erfolgreicher Vorbilder, teils durch staatliche Entwicklungsprogramme, die sich vor allem im Rahmen des Merkantilismus europaweit im 17. und 18. Jahrhundert beobachten lassen“, schreibt Plumpe. Zum anderen „schließlich durch die Expansion erfolgreicher kapitalistischer Staaten, die ihre neugewonnenen Handlungsspielräume geografisch und kommerziell nutzten, um sich neue Ressourcen und Marktzugänge zu verschaffen“. Der Autor begreift den Kapitalismus „als immerwährende Revolution“, eine Bewegung, die so gut oder eben so schlecht ist wie die Menschen, die das jeweilige kapitalistische System umsetzen. Trotz aller „unterschiedlichen Art zu handeln und widersprüchlichen Art zu handeln“ gebe es bei allen Formen des Kapitalismus allerdings eine Konstante: seine Dynamik. Sie bestehe bis heute.

Was ist für Plumpe nun der Kapitalismus?

Er entsteht für ihn dort, wo es eine kapitalintensive Massenproduktion gibt. Dazu notwendig sind Massenmärkte mit einer Vielzahl von Kunden und technische Fähigkeiten, die es zulassen müssten, „unter Ausnutzung von Skaleneffekten Massenproduktion preiswert herstellen und anbieten zu können“.  Der Kapitalismus beruhe auf einem „evolutionären Zusammenspiel von dezentralen Privateigentumsstrukturen“, „preisbildenden Märkten als Katalysatoren des Markterfolges“ und schließlich auf der „politischen Stabilisierung dieser evolutionären Mechanismen“, mit der die Handlungsfähigkeit sichergestellt werden könne. Es gehe darum, „genügend Güter und Dienstleistungen in einer Menge und zu einem Preis herzustellen“, die von einer Massenkundschaft bezahlt und gekauft werden können ⎼ also nicht nur von Reichen, sondern vor allem auch von Menschen mit weniger Geld. Genau dieses, meint Plumpe, unterscheide den Kapitalismus von allen vorherigen Wirtschaftsformen. Denn in diesen stünde allein die Oberschicht im Mittelpunkt, die sich von den weniger Privilegierten hätte bedienen und beliefern lassen. Plumpe: „Nichtkapitalistische Wirtschaftsordnungen haben es bis heute nirgends geschafft, jene materielle Hintergrundentlastung zu ermöglichen, ohne die ein wie auch immer gestaltetes gutes Leben nur schwer vorstellbar ist.“ Materielle Hintergrundentlastung bedeute zwar kein Lebensglück, zumal sie auch unter kapitalistischen Bedingungen nicht immer und überall gegeben sei. „In der Summe ist aber“, so Plumpes Überzeugung, „die kapitalistische Ordnung allen anderen vorstellbaren Arrangements weit überlegen.“

Angesichts unserer heutigen Erfahrungen mit Finanzkapitalismus, fällt es schwer, von einem guten oder auch von einem schlechten Kapitalismus zu sprechen. (Plumpe erinnert daran, dass es zum Beispiel Spekulationsphänomene schon auch immer in vorherigen Jahrhunderten gegeben hat.) Fest steht allerdings, dass Kapitalismus nie gut sein kann, wenn nicht auch bestimmte soziale, ethische und politische Bedingungen den Rahmen des Wirtschaftens vorgeben. Für Plumpe ist eine kapitalistische Ordnung überhaupt nur sinnvoll, wenn es staatliche Garantien für bestimmte finanz- und wirtschaftspolitische Grundsäulen gibt: Dazu zählen die Respektierung des Privateigentums, die Erhaltung stabiler preisbildender Märkte und stabilen Geldes sowie die Frage der Strukturierung von Risiken. Die Politik müsse dafür sorgen, welche Risiken des Kapitalismus maximiert oder minimiert werden können. Plumpe: „Der Staat hat also nicht nur die Ordnung an sich zu garantieren, sondern er hat auch die spezifische Risikobelastung zu berücksichtigen und sie erträglich zu machen, damit es so etwas wie Kapitalismus überhaupt gibt.“ Alternativen zum Kapitalismus sieht der Autor nicht wirklich. Sie müssten sich nämlich vor allem erst mal rechnen: „Sie müssten also preiswerter sein als die Nutzung des Marktes und sie müssten eine höhere oder gleiche Veränderungsdynamik für die Zukunft haben, wenn man denn die bald acht Milliarden Menschen angemessen versorgen will.“

Fazit

Plumpe gelingt ein detaillierter großer und immens fleißiger Ritt durch die Geschichte des Kapitalismus. Es wird deutlich, dass der Kapitalismus trotz langlebiger Kritik und aktueller Abgesänge immer noch sehr lebendig ist. Den einzigen, alles erklärenden Kapitalismus gibt es nicht, das macht uns Plumpe klar, aber Varianten, die auch heute noch in vielen Volkswirtschaften umgesetzt werden. In Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ gibt es übrigens ein Happy End: Der vom Streben nach Reichtum besessene Kohlenmunk-Peter lebt am Ende wieder ein bescheidenes, aber glückliches Leben. Mal sehen, wie glücklich eines Tages unsere Realität endet ⎼ falls sie endet.

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