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Raus aus der Lethargie: Zehn Thesen hin zu einem digitalen Deutschland

Eine schlechte Bildungs- und Technologie-Infrastruktur, die falsche Förderung von Unternehmen, keine wirkliche Startup-Kultur, zu langsame Behörden ⎼ der deutsche Staat verschläft unsere Zukunft. In seinem neuen Buch gibt Martin Pätzold Tipps, was sich ändern muss.

Die Weltwirtschaft befindet sich in einem tief greifenden Strukturwandel. Der radikale Umbruch durch Technologie (und den „disruptive change“, ein Begriff, den schon vor 20 Jahren Clayton Christensen, Professor an der Harvard Business School formulierte), durch Digitalisierung und durch politische Regulierung wirkt auf uns ein und verändert die Wirtschaft grundlegend. Big-Data-Technologien spielen eine immer größere Rolle.

Doch neue Technik und digitale Vernetzung von Märkten sind keine Selbstläufer. „Unternehmen, die diesen Trend verschlafen haben, tun sich heute je nach Branche sehr schwer oder sind bereits vom Markt gedrängt worden“, schreibt Martin Pätzold in seinem nun erschienenen Buch mit dem Titel „Neue Wettbewerbspolitik im 21. Jahrhundert“.

Pätzold, Professor für Wettbewerb in der digitalen Wirtschaft an der Hochschule Mittweida, stellt in seiner 10-Punkte-Agenda die für ihn entscheidenden Faktoren zusammen, wie ein deutsches und auch europäisches Wettbewerbsmodell aussehen könnte, um zukünftig dem wirtschaftlichen Druck aus Asien und den USA standzuhalten. Er analysiert, inwieweit die Digitalisierung die Märkte beeinflusst, wie digitale Strukturen erfolgreich funktionieren und woran sie scheitern, und wie eine Wettbewerbspolitik aussehen muss, die eine digitale Wirtschaft benötigt, um zukunftsfähig zu sein.

Eins ist klar: Wenn auch die Bedingungen des zukünftigen Wirtschaftens neu sind, muss der Staat der Sozialen Marktwirtschaft treu bleiben und nach wie vor den Ausgleich zwischen Förderung der Strukturen und Freiheit der Unternehmen suchen. „Freiheit am Markt soll die unabhängige Tätigkeit der Firmen schützen“, sagt Pätzold. Sie „meint jedoch nicht die Entbindung des Staates von jeglicher wirtschaftsformender Verantwortung.“

Staatsfonds für Startups

Vor noch rund 20 Jahren wirtschafteten die Unternehmen in Deutschland in einem eher stabilen und überschaubaren System mit trägen Märkten und hoher Planungssicherheit. Heute hat sich die Wirtschaft in ein hochdynamisches und hochkomplexes System mit wachsenden Unsicherheiten verwandelt. Die neue unternehmerische Welt ist volatil und oft situationsgetrieben.

Pätzold beschreibt zunächst an Beispielen wie Kodak, Blackberry oder auch Tesla, welche unterschiedlichen und gegenläufigen Auswirkungen technologische Innovationen auf Unternehmen und Märkte bisher haben konnten und wie sie etablierte Geschäftsmodelle auf eine harte Probe stellten. Gleichzeitig sind neue vielversprechende Geschäftsfelder und Player entstanden.

Doch gerade für die Start-ups tue Deutschland noch zu wenig, meint Pätzold. Er plädiert daher für eine, aus volkswirtschaftlicher Sicht, absolut notwendige, staatliche Förderung vor allem der Jungunternehmen: „Hier muss dringend eine klare Abgrenzung von der vorher als Tabu bekannten staatlichen Subventionierung ausgewählter Unternehmen vorgenommen werden“, sagt der Autor. Ihm schwebt eine Art Staatsfonds für Start-ups in einer Größe von fünf bis zehn Milliarden Euro vor. Eine Zahl, die sich für ihn rechnet. Denn: „Eine blühende Start-up-Szene ist für die Innovationsfähigkeit, die Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze, die Generierung von Steuereinnahmen, die Bildung unterschiedlicher Vermögen und somit für den langfristigen Wohlstand maßgeblich.“

Auch die Etablierung eines neuen Börsenindexes (New-Technology-Startups) sei vorstellbar und würde den Standort Deutschland für ausländische Gründer und Investoren interessanter machen. Gleichzeitig sollte der Staat den steuerlichen Umgang mit (vor allem amerikanischen) Digitalunternehmen überdenken, von deren wachsender Finanzstärke er bisher kaum partizipiert.

Bildung von Super-Universitäten

Um dem Fachkräftemangel zu begegnen und Mitarbeiter besser zu schulen, wünscht sich Pätzold eine Agentur für Arbeit, die ihren Fokus intensiver auf die Erwartungen der digitalen Arbeitswelt setzt. Nach Pätzold sollten auch die Personaler der Unternehmen „ein für das Recruiting ausschlaggebendes Bewusstsein“ entwickeln, das sich „weg von der Konzentration auf klassische Abschlüsse und tradierte Bewertungsmaßstäbe hin zur Anerkennung wichtiger individueller Kompetenzen in Bezug auf konkrete Einsatzbereiche“, bewegt. Ebenso wünscht er sich für die gesamte Bildungsinfrastruktur eine noch stärkere Verdichtung: Er schlägt die Entwicklung „zwei oder drei herausragender Super-Universitäten“ vor, um die in Deutschland auf verschiedene Forschungsinstitute verteilte digitale und technische Kompetenz zu bündeln und dadurch international wettbewerbsfähiger zu machen.

Auch der Staat selbst braucht Beschleunigung und Verschlankung mithilfe von E-Government. Selbst wenn Estland als Vorreiter des „digitalen Staates“ für die Bundesrepublik kaum taugt, da der baltische E-Staat praktisch ohne Hindernisse „auf der grünen Wiese“ nach dem Niedergang des Ostblocks entstehen konnte, reicht in Deutschland ein Blick in die lokalen Bürgerbüros, um zu verstehen, dass der Nachholbedarf in Sachen digitaler Behördengang enorm ist. Schon der von Pätzold beklagte fehlende Ausbau der 5G-Technologie verhindert hierzulande den Fortschritt.

Pätzold ist überzeugt, dass sich Deutschland eine Verlängerung seiner digitalen Lethargie nicht leisten kann. Ginge es nach ihm, sollte die Politik auch viel stärker über europäische Ländergrenzen hinausdenken, um Digitalisierungspotenziale zu heben. Ein solcher Schritt verlangt Offenheit, Risikofreude und die Bereitschaft, sich mit anderen auf eine neue Richtung einzulassen. Vielleicht sollte ein solcher Weg im Staatsministerium für Digitalisierung beginnen – indem das Ministerium nicht mehr allein von Politikern, sondern auch von Praktikern und Unternehmern geführt wird.

Fazit

Disruptive Marktentwicklungen, interne und externe Denkblockaden, politische und gesellschaftliche Willensbildungsprozesse – die wirtschaftliche Erneuerung ist ein komplexes Feld. Pätzolds Buch bietet einen fundierten und übersichtlichen Überblick auf die aktuellen Entwicklungen. Mit seinen zehn Thesen zur Stärkung der digitalen Wirtschaft leistet er einen wichtigen Denkanstoß, von dem man nur hoffen kann, dass er die politische Elite erreicht.

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