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EU-Hilfspaket: Politisch motivierte Transfers statt zielgenaue Stabilisierung

Mit dem Maßnahmenpaket "Next Generation EU" reagiert die Europäische Kommission nach anfänglicher Zurückhaltung auf die Corona-Krise. Ob die Maßnahmen den Mitgliedstaaten wirklich helfen werden, lässt sich an drei Kriterien beurteilen.

Nach einer anfänglich langsamen Reaktion Europas auf die Covid-19-Pandemie zeichnen sich nun die präziseren Konturen einer sehr bedeutsamen fiskalischen Antwort der EU ab. Mit ihrem Vorschlag von Ende Mai für das mit 750 Milliarden Euro dotierte Krisenpaket „Next Generation EU“ hat die Europäische Kommission die deutsch-französische Initiative für einen Corona-Recovery Fund aufgegriffen und konkretisiert. Dieses Budget soll den EU-Haushalt in den kommenden Jahren verstärken und einen Beitrag zur Erholung der europäischen Wirtschaft mit einem Fokus auf besonders von der Pandemie betroffene Länder, Regionen und Sektoren leisten.

Das Kommissionsmodell lässt sich anhand von drei Kriterien bewerten. Erstens sollten sinnvoll konstruierte Instrumente tatsächlich zielgenau die besonders von der Pandemie betroffenen Mitgliedstaaten stabilisieren. Zweitens muss die inhaltliche Ausrichtung der neuen Fonds einen europäischen Mehrwert durch Finanzierung von Politikfeldern mit europäischem Nutzen versprechen. Dritten sollte die Steuerung der Fonds und ihre Verwendungsauflagen tatsächlich einen Beitrag zur Überwindung von nationalen wirtschaftspolitischen Reformblockaden erwarten lassen.

Unstrittig ist zunächst, dass eine wirksame Absicherung von besonders stark betroffenen Mitgliedstaaten in der Krise im Einklang mit den Werteentscheidungen einer solidarischen Union steht und auch ökonomisch für alle Mitgliedstaaten vorteilhaft sein kann. Seit Jahren wird bereits in Politik und Forschung über das Potenzial europäischer Fiskalkapazitäten diskutiert, die eine Versicherungsfunktion für asymmetrische Wirtschaftsschocks leisten könnten. Auch wenn es eine große Bandbreite von Vorschlägen gibt, so empfehlen sie durchgängig Zahlungen an solche Länder, die in einer Wirtschaftskrise besonders schwer betroffen sind. Keines der ernsthaft diskutierten Modelle zur fiskalischen Versicherung schlägt hingegen vor, systematisch Transfers von reichere an ärmere Länder zu leisten.

“Regeln zur Verteilung der Mittel auf die Mitgliedstaaten widersprechen Erkenntnissen über zielgenaue Stabilisierungsinstrumente.”

Betrachtet man nach diesen Vorüberlegungen die Details des Kommissionspakets, dann ergeben sich, gemessen an den offiziellen Zielen des Pakets, enttäuschende Überraschungen. Die Regeln zur Verteilung der Mittel auf die Mitgliedstaaten widersprechen allen genannten Erkenntnissen über zielgenaue Stabilisierungsinstrumente. Die wichtigsten Instrumente wie die „Recovery and Resilience Facility“ (RFF) oder „REACT-EU“ im Kommissionspaket sind schon konstruktionsbedingt weitgehend ungeeignet, um eine zielgenaue Funktion als Schockabsorber für einen asymmetrischen Wachstumseinbruch zu erfüllen. Maßgeblich für die Mittelverteilung sind nicht die Tiefe der 2020er-Rezession, sondern das Wohlstandsniveau und die Arbeitsmarktsituation vor der Krise.

Auch die empirische Analyse macht deutlich, dass das Kommissionsmodell nicht zu zielgenauen Leistungen für alle besonders stark betroffenen Länder führt. Das Begünstigungsmuster ist weitgehend losgelöst von der ökonomischen Betroffenheit durch die Pandemie. Länder wie Polen und Rumänien werden sehr stark begünstigt, obwohl sie eine verglichen zum EU-Durchschnitt geringere Rezession zu erwarten haben. Aber auch die stark von der Rezession getroffenen Länder werden sehr unterschiedlich bedacht. Den Top-Empfängern (gemessen an der nationalen Wirtschaftskraft) wie Kroatien, Bulgarien und Griechenland stehen Länder wie Spanien und Italien mit deutlich geringerer Begünstigung gegenüber. Noch auffälliger ist die Situation Irlands und Frankreichs, die sogar Nettozahler des Next Generation-Fonds sind, obwohl sie mit einer überdurchschnittlich tiefen Rezession konfrontiert sind.

Günstigere Befunde ergeben sich im Hinblick auf die Mehrwertorientierung bei den Ausgabeschwerpunkten. Diese sind mit ihrer Betonung von Klimapolitik und Digitalisierung angemessen spezifiziert. Äußerst überzeugend erscheint der neue EU4Health-Fonds, der einen Einstieg in die europäische Gesundheits- und Seuchenpolitik finanzieren soll. Dass Europa auf diesen Gebieten die Erfahrung der unkoordinierten Antwort auf die Pandemie aufarbeiten muss und leistungsfähige europäische Instrumente benötigt, dürfte unzweifelhaft sein. Negativ unter Mehrwertgesichtspunkten ist allerdings die im Next Generation-Paket untergebrachte Höherdotierung der Agrar-Ausgaben zu bewerten. Höhere Mittel für diesen Politikbereich reduzieren nur den dringend notwendigen Reformdruck und es gibt keinen überzeugenden Bezug für diese Mittelausweitung mit Blick auf die Covid-19-Pandemie.

“Die Erkenntnis mildert nicht die Sinnhaftigkeit einer solidarischen Antwort.”

Schlechte Noten verdient das Kommissionspaket außerdem im Hinblick auf die realistisch zu erwartenden Reformanreize. Hier ist zunächst ein häufiges Missverständnis in der Bewertung der nationalen Verantwortung für die ökonomischen Kosten der Corona-Krise zu korrigieren. Es ist zwar völlig richtig, dass kein EU-Land eine Schuld an der Corona-Pandemie trägt und dass der mit der Pandemie einhergehende ökonomische Schock nicht durch eigenes Fehlverhalten ausgelöst worden ist. Daraus folgt aber nicht, dass die betroffenen Länder keine Eigenverantwortung für das Ausmaß der ökonomischen Schäden haben. Die Höhe der Kosten hängt maßgeblich davon ab, wie sich die Vorbedingungen am Vorabend der Pandemie darstellen, und diese Vorbedingungen sind politikgemacht. Damit besteht sehr wohl eine nationale Verantwortung für Betroffenheit durch die Krise. Diese Verantwortung bezieht sich unter anderem auf den Zustand der Staatsfinanzen, das Wachstumspotenzial, die Ausgangssituation sowie die Krisenflexibilität des Arbeitsmarktes und die Leistungsfähigkeit sowie die Kosteneffizienz der öffentlichen Verwaltung.

Diese Erkenntnis mildert nicht die Sinnhaftigkeit einer solidarischen Antwort. Sie verweist aber darauf, dass neue Instrumente europäischer Solidarität wirksame Anreize setzen müssen, den nationalen Reformstau zu überwinden. Solche wirksamen Anreize sind nach derzeitigem Stand nicht zu erwarten. Die Einbindung in das Europäische Semester mit seinen nur vage formulierten und politisch ausgehandelten länder-spezifischen Empfehlungen lässt keinen wirklichen Reformdruck erwarten. Die Empfehlungen des Europäischen Semesters sind so allgemein gehalten, dass sie mühelos von jeder Regierung mit einigen kosmetischen Maßnahmen als erfüllt darstellbar sind, ohne dass deshalb wirklich heiße Eisen in der nationalen Reformpolitik angefasst werden müssten. Noch dazu werden ausgerechnet Länder stark begünstigt, die mit einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit beweisen, dass sie eine lange unerledigte Liste von Reformen auf den Gebieten Arbeitsmärkte, Bildungssystem und Steuer- und Abgabensystem besitzen. Das Signal einer solchen Verteilungsformel ist, dass die Kosten des nationalen Reformstaus in Europa künftig europäisch vergemeinschaftet werden. Damit mindert Next Generation EU sogar die Reformanreize.

Das Fazit der genaueren Betrachtung des Corona-Fiskalpakets fällt somit sehr ernüchternd aus. Wird die von der Kommission vorgeschlagenen Ausrichtung der Zahlungen in den Verhandlungen nicht noch entscheidend korrigiert, dann fällt Next Generation EU gerade bei dem Kriterium durch, das von Anfang an das zentrale Leitmotiv war: nämlich einen Beitrag zur Stabilisierung der von der Pandemie ökonomisch besonderen betroffenen Mitgliedstaaten und Regionen leisten zu wollen. Der Rechtfertigungsversuch der Kommission, wonach Länder mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen eine geringere Krisenresilienz hätten und ihnen deshalb besonders geholfen werden müsste, hat empirisch keinerlei Substanz. Gerade die ärmeren mittel- und osteuropäischen Länder haben die letzte schwere

Krise, die globale Finanzkrise, deutlich besser als Südeuropa überstanden und direkt danach ihren stabilen und sehr erfolgreichen ökonomischen Aufholprozess fortgesetzt. Es gibt aus heutiger Sicht kaum überzeugende Anhaltspunkte für die Erwartung, dass die im Pro-Kopf-Einkommen noch hinten liegenden mittel- und osteuropäischen Staaten nach der aktuellen Krise einen deutlich schwierigeren Erholungsprozess erleben sollten als andere EU-Mitgliedstaaten.

Warum die Europäische Kommission sich sogar von eigenen Erkenntnissen zur Konstruktion von stabilisierenden Fiskalkapazitäten abwendet und ein für die Stabilisierung eines asymmetrischen Schocks gedachtes Instrument für sehr hohe Transfers an Mittel- und Osteuropa zweckentfremdet, ist nur politisch erklärbar. Vermutlich soll mit den hohen Nettoleistungen die Zustimmung dieser Mitgliedstaaten zum Paket erkauft werden. In die taktische Richtung gehen auch die ohne nachvollziehbaren Corona-Bezug empfohlene Höherdotierungen der Agrarpolitik und des zur Flankierung der EU-Klimapolitik vorgesehene Just Transition Fund.

Angesichts dieser Defizite sind in den anstehenden Verhandlungen die folgenden Anpassungen wünschenswert, um das Potenzial des NGF voll entfalten zu können: Die Kriterien für die Mittelverteilung des europäischen Wiederaufbauplans sind ganz neu zu konstruieren. In den Mittelpunkt müssen Kennzahlen treten, die über die Asymmetrie des ökonomischen Schocks Auskunft geben wie z.B. der Rückgang in der Wirtschaftsleistung 2020 relativ zum EU-Durchschnitt. Die Höherdotierung der Agrarfonds und des Just Transition Fund als Teil von Next Generation EU sollte entfallen. Wenn es hier ein berechtigtes Anliegen für höhere Mittel geben sollte (was strittig ist), dann sind diese Mittel im regulären Finanzrahmen unterzubringen und gegebenenfalls durch Kürzungen anderer Positionen gegenzufinanzieren. Außerdem sollten die viel zu unspezifischen Auflagen des Europäischen sollten durch verbindlichere Reformauflagen ergänzt werden.

Gelingen diese Anpassungen nicht, dann ist der erste substanzielle Versuch Europas zum Scheitern verurteilt, eine makroökonomische Fiskalkapazität mit wirksamer Bekämpfung asymmetrischer Schocks zu schaffen. Stattdessen würde die Corona-Pandemie als Argument missbraucht, um neue politisch opportun erscheinende Transfers durchzusetzen. Dies könnte letztlich zur weiteren Entfremdung wichtiger Mitgliedstaaten vom europäischen Projekt führen.

Der Blogbeitrag basiert auf dem Paper „Next Generation EU“ und das drohende Risiko einer verpassten europäischen Chance

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