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Wie sieht der Sozialstaat der Zukunft aus?

Deutschlands Sozialsystem ist in die Jahre gekommen. Gerade der Ausbruch der Corona-Pandemie hat Ronnie Schöb in seiner Überzeugung bestärkt, dass der deutsche Sozialstaat dringend reformiert werden muss. Der Ökonom zeigt mit analytischer Klarheit, was notwendig ist, um die sozialstaatliche Grundsicherung wieder trag- und zukunftsfähig zu machen.

Ronnie Schöb ist sich sicher: Interessensgruppen orientierte Politik ist der Tod des Sozialstaats. Denn wenn der Sozialstaat zum Selbstbedienungsladen für eine Politik wird, die nur noch ihre Klientel bedient, wird er über kurz oder lang die Unterstützung seiner Bürger verlieren. „Wenn alle etwas bekommen“, schreibt der Autor, „dann fühlt sich am Ende jeder als Verlierer, und der Sozialstaat wird dafür zum Sündenbock gemacht.“ Ronnie Schöb, Professor für Finanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin, fordert: Ein reformierter, zeitgemäßer Sozialstaat muss her, der nicht nur hilft, sondern auch den Bürgern entsprechende Anreize bietet, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Schöb, der seit 2015 als Spezialist für sozial- und arbeitsmarktpolitische Fragen auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen ist, hat sein nun erschienenes Buch „Der starke Sozialstaat – weniger ist mehr“ weit vor Beginn der Corona-Krise geplant. Doch gerade die Pandemie bestärkte ihn nicht nur in seinen Reformideen, sondern lässt ihn nun auch hoffen, dass der durch Corona an vielen Orten erwachte Bürgersinn als Zeichen dafür gesehen werden kann, dass auch die Übernahme von Eigenverantwortung für die meisten im Grunde selbstverständlich ist.

Sozialstaat im Geist der Solidarität

Fast scheint es, als ob der Sozialstaat zu einer Selbstverständlichkeit verkommen ist. „Wir haben aufgehört zu fragen, für was ein Sozialstaat angesichts der Herausforderungen unseres Lebens in einer modernen globalisierten und technologisierten Welt eigentlich da sein soll“, meint der Autor. Heute sei bei vielen der Eindruck entstanden, der Sozialstaat müsse zu einer Art garantierter Versicherung für fast alle Unsicherheiten des Lebens werden. Die Folge: Der Bürger wird bequem, die notwendige Initiativ- und Innovationskraft, um den Sozialstaat zukunftstauglich zu machen, versiegt. Und das, meint Schöb, kann so nicht weitergehen.  

Was aber ist überhaupt der Sozialstaat? Zunächst ist es seine Aufgabe, ein funktionierendes Bildungssystem zu schaffen und die marktwirtschaftliche Ordnung zu gewährleisten. Seine Stärke besteht für Schöb vor allem in seinem implizierten „Versprechen aller Bürger, sich gegenseitig zu helfen, wenn das Glück sie einmal verlässt und sie existenziell in Not geraten. Genau dieses wechselseitige Versprechen, das der Idee des modernen Sozialstaats innewohnen sollte, gibt dem Einzelnen am Ende die Sicherheit, die nötig ist, um sich im Leben und im Job auszuprobieren und sich selbst etwas aufzubauen“, erklärt der Autor.

Das Dilemma liegt allerdings darin, dass zu viel Fürsorge die Bereitschaft zur Selbsthilfe untergraben kann und dadurch die Probleme verstärkt, die es eigentlich zu lösen gilt. Zu wenig Fürsorge wiederum fordert zwar Eigeninitiative, schreibt der Autor, nimmt aber in Kauf, dass die, die sich selbst nicht helfen können, im Stich gelassen werden.

Drei Säulen der solidarischen Grundsicherung

Was nun ist Schöbs neue Lösung? Eigenverantwortung und staatliche Fürsorge gehören für ihn zusammen. Damit der Sozialstaat funktionieren kann, baut der Autor auf eine „Versicherung auf Gegenseitigkeit“. Sein Konzept einer solidarischen Grundsicherung beruht auf drei Säulen: Die erste zielt auf eine effektivere und attraktivere Regelbedarfssicherung für Erwerbsfähige, die arbeitslos sind oder zu wenig verdienen. Dass eine Reform des bestehenden Hartz-IV-Systems dringend nötig ist, rechnet der Autor bis auf jede Cent-Stelle hinterm Komma vor, und man ist erstaunt zu lesen, dass diejenigen, die Hartz-IV beziehen, oft finanziell schlechter dastehen, wenn sie mehr hinzuverdienen wollen, als wenn sie nichts machen.

Schöbs zweite Säule zielt auf eine – für den Autor längst überfällige – Kindergrundsicherung. Sie sei dringend notwendig, um Familien stärker zu unterstützen. Das aktuelle Familien-Förderwirrwarr sei unfair, meint der Autor. Der bisherigen Kindersicherung fehle eine klare Linie. Sie mache Eltern an der einen Stelle große Versprechungen und bestrafe sie dafür auf der anderen Seite. Seine vorgeschlagene Kindergrundsicherung will die Förderung von Kindern von der Grundsicherung für Erwerbsfähige und deren individueller Förderung entkoppeln (Stichwort „Drei-Klassen-Kinderförderung“) und damit gerechter machen.

Die dritte Säule betrifft das Wohnen. Schöbs „neue Wohnbedarfssituation garantiert jedem Haushalt ein bedarfgerechtes Wohnen unabhängig vom regionalen Mietniveau. Sie ersetzt das alte Wohngeld und die Übernahme der Wohnkosten […] und bietet mehr Schutz vor hohen und zu schnell steigenden Mieten.“

Alle drei Grundsicherungsleistungen müssen allerdings so miteinander verzahnt sein, dass Schnittstellenprobleme – wie bisher – nicht mehr auftreten und der Anreiz zur Selbsthilfe und zum eigenverantwortlichen Handeln deutlich gestärkt wird.

Kern des modernen Sozialstaats

Für Schöb geht es um das Prinzip der gegenseitigen Solidarität. Der Staat muss alle „Bürger zu dem gegenseitigen Versprechen verpflichten, zunächst einmal für sich selbst zu sorgen und, wenn das nicht funktioniert, sich gegenseitig zu helfen. Er hat dann dafür zu sorgen, dass die Glücklichen ihrer Verpflichtung zur Hilfe nachkommen, auch nachdem ihnen klar geworden ist, dass sie zu den Glücklichen gehören.“ Erst die Definition verbindlicher gegenseitiger Pflichten und die Abgrenzung zur Solidargemeinschaft begründet für Schöb eine solidarische Grundsicherung.

Auch deswegen ist für ihn ein bedingungsloses Grundeinkommen kaum realistisch. „Es höhlt die Idee der Solidargemeinschaft aus. Es definiert ausschließlich Rechte gegenüber der Gesellschaft. Die Pflicht zur Selbsthilfe wird abgeschafft. Damit wird das Solidarprinzip einseitig zugunsten eines unbedingten Anspruchs des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft aufgegeben.“ Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen befreie der Staat seine Bürger vom Zwang, für sich selbst sorgen zu müssen.

Problematisch wird weiterhin bleiben, wer letztlich Anspruch auf diese Hilfen hat. Schöb meint: Transparente Kriterien sollen in Zukunft genau regeln, wer das Versprechen abgibt, „für sich selbst so weit wie möglich zu sorgen und gleichzeitig bereit zu sein, denjenigen zu helfen, die in Not geraten, weil es ihnen nicht gelingt.“ Damit soll Vorteilsnehmern und Nutznießern vorgebeugt werden.

Auch für das heikle Thema Zuwanderung wird dieser neue Kriterienkatalog relevant. Schöb schlägt vor, statt des bisher geltenden Wohnsitzlandprinzips, das alle EU-Ausländer den Inländern gleichstellt, das Heimatlandprinzip anzuwenden: „Wer in Deutschland arbeitet und Sozialversicherungsbeiträge zahlt, erwirbt wie jeder deutsche Arbeitnehmer Ansprüche gegenüber dem deutschen Sozialversicherungssystem. Wer in Deutschland arbeitslos wird und noch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat oder länger als zwölf Monate arbeitslos bleibt, bekommt jedoch keine steuerfinanzierten Grundsicherungsleistungen nach deutschem Sozialrecht, sondern nur die Hilfe seines Heimatlandes.“

Fazit

Schöbs Buch lohnt sich für jeden, der einen Blick in das Wirrwarr der Leistungen und Schwächen des deutschen Sozialstaates werfen möchte. Das Buch hat enormes Potenzial für eine konstruktive Diskussion darüber, inwieweit und mit welchen Ansätzen das deutsche Sozialsystem modernisiert werden kann. Anhänger der Politik, die vor allem die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze im Fokus haben, wird es nicht so erfreuen. Dennoch ist es ein Muss für jeden Sozialpolitiker.

Ronnie Schöb: Der starke Sozialstaat – weniger ist mehr, Campus-Verlag, Frankfurt Main 2020

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