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Von wegen Wirtschaftswunder!

Obwohl er erstmals 1957 erschienen ist, scheint der nun neu aufgelegte Klassiker „Wohlstand für alle“ von Ludwig Erhard kaum an Aktualität verloren zu haben. Auch in Zeiten des Brexits, der Pandemie und der damit einhergehenden Hochverschuldung des Staates lässt er sich streckenweise immer noch als Quelle der Inspiration und als Ratgeber lesen.

„Wohlstand für alle“ ist heute ein Schlagwort geworden, dessen sich Politiker jeder Couleur gerne bedienen, um sich sozial-marktwirtschaftlich aufgeschlossen zu zeigen. Oder um es politisch umzudeuten – sei es in Richtung „Geld für alle“, „Macht für alle“ oder auch „Freibier für alle“.

Ludwig Erhards Buch „Wohlstand für alle“ als Bibel der Sozialen Marktwirtschaft hochzujubeln, wie es manche seiner Apologeten tun, ist allerdings auch Blödsinn. Denn Erhard veröffentlichte es 1957, in einer Zeit, deren Umstände mit den heutigen in keiner Weise zu vergleichen sind.

Doch was überzeugt, ist der Autor selbst: Wem es gelingt, das im Econ-Verlag neu aufgelegte Buch unbefangen zu lesen, der wird von Erhards Analyse und Weitsicht mehr als beeindruckt sein.

„Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören für ihn untrennbar zusammen – geordnet durch einen Staat, der wie ein Schiedsrichter im Fußball wirkt.“

Am Wortlaut des Originals hat der Verlag nichts verändert. Ein Leseschmöker ist es nach wie vor nicht. Das sollte es auch nie werden. Erhard sah sein Buch als „gutes Rüstzeug in den Auseinandersetzungen unserer Zeit“. So liest es sich, auch angesichts der vielen Charts und Zahlen, streckenweise wie ein Protokoll zur Entstehung der Marktwirtschaft und der Liberalisierung.

Die Neuauflage beinhaltet allerdings unterhaltsame zusätzliche Elemente wie einige kommentierende Texte und Karikaturen über Erhard aus der Tagespresse der 1950er-Jahre; ebenso Reden, die Erhard als Bundeswirtschaftsminister und Bundeskanzler (Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963) gehalten hatte.

Der Staat darf pfeifen, aber nicht mitspielen

Erhard betont in seinem Buch die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges, das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte, das Trauma des Dritten Reiches und die Diktatur, die es für ihn notwendig gemacht hat, eine neue Wirtschaftsordnung zu erdenken und dem Drang nach Freiheit erste Priorität zu verleihen.

Aus ihr erwächst sein Postulat nach freiem Wettbewerb in einem System der Ordnung: „Die Grundlage aller Marktwirtschaft bleibt die Freiheit des Wettbewerbs.“ Sich durch eigene Leistung im Wettbewerb mit den Konkurrenten die Gunst des Verbrauchers zu verdienen – darum geht es ihm. Der Wettbewerb führe dazu, den „wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im Besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugutekommen zu lassen“.

Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören für ihn untrennbar zusammen – geordnet durch einen Staat, der wie ein Schiedsrichter im Fußball wirkt: Der Staat dürfe nur pfeifen, aber nicht mitspielen, schreibt Erhard. Der soziale Sinn der Marktwirtschaft liege darin, dass „jeder wirtschaftliche Erfolg, wo immer er entsteht, dass jeder Vorteil aus der Rationalisierung, jede Verbesserung der Arbeitsleistung dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird und einer besseren Befriedung des Konsums dient“.

Von einem „Wirtschaftswunder“, das bis heute kolportiert wird, wollte Erhard nichts wissen: „Weil ich alle Erfolge, die mittels meiner Wirtschaftspolitik errungen wurden, auf das Tun und Lassen der beteiligten Menschen zurückführe, bin ich übrigens auch nicht geneigt, den Begriff des Deutschen Wunders gelten zu lassen. Das, was sich in den letzten neun Jahren [1948–1957] in Deutschland vollzogen hat, war alles andere als ein Wunder. Es war nur die ehrliche Konsequenz der Anstrengung eines ganzen Volkes.“

Was das Ausland schrieb

Dennoch wurde der untersetzte, knapp 60-jährige Mann mit den blauen Augen und dem Doppelkinn, dem grenzenlosen Optimismus und dem schweren Hang zu Zigarren gefeiert. Das Algemeen Dagblad schrieb im Februar 1954 über ihn als den „modernen Liberalen“, die Toronto Star Weekly nannte ihn im März 1956 „den deutschen Apostel der freien Wirtschaft“. Ob berechtigt oder unberechtigt – Tatsache war: Als Raucher schlug er den Rekord Churchills, der sieben Zigarren pro Tag paffte. Erhard kam auf zwölf.

Was hätte Erhard wohl über die heutige Wirtschaft gedacht? Vieles wäre ihm mit Sicherheit unvorstellbar gewesen. Zum Beispiel ein demokratischer Staat, der eine nationale Industriestrategie vorgibt. Oder der den Umbau der Stahlindustrie bezahlt. „Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung kann auf Dauer nur bestehen“, schreibt Erhard in seinem Buch, „wenn ein Höchstmaß an privater Initiative gewährleistet ist.“

Die Grundrente hätte er genauso abgelehnt – er hatte sich schon gegen die Dynamisierung der Rente in seiner Zeit gewehrt – wie die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht in Zeiten der Pandemie. Auch die Aufweichung oder Aussetzung der Schuldenbremse hätte er wohl nicht mitgemacht. Denn: „Das Kardinalproblem der Wirtschaft besteht darin, den Aufschwung frei von inflationistischen Tendenzen zu halten.“

Ob er ein Unternehmen wie die Lufthansa gerettet hätte? Vielleicht. Denn er war kein Dogmatiker. Allerdings hätte er sicher ein Ausstiegsszenario des Staates aus dem Rettungsfonds formuliert. Den immer wieder aufkommenden Streit von Bund und Ländern über den richtigen Umgang mit Corona hätte er hingegen wohlwollend akzeptiert: „Es wird immer einen Widerstreit der Interessen geben. Auch das Verhältnis von Bund und Ländern ist davon nicht frei … Es hat aber keinen Sinn, sich in gegenseitigen Vorwürfen zu ergehen und nach Schuldigen zu fragen. […] Man muss immer wieder zu einer fruchtbaren und freundschaftlichen Zusammenarbeit gelangen.“

Und ganz sicher hätte er den Brexit abgelehnt: „Ich erstrebe unter allen Umständen den Weg der freiheitlichen und freizügigen Verbindung mit allen Ländern der westlichen Welt, insbesondere mit unseren europäischen Partnern. Europa ist insoweit eine Integrationsform wirtschaftlicher und politischer Art. Das Ziel geht jedoch darüber hinaus, und das heißt eben, dass wir die westliche Welt nicht noch einmal in verschiedene Wirtschaftsräume aufsplittern dürfen.“

Fazit

Die Neuauflage des Buches ist ein Segen. So werden wir daran erinnert, dass Wohlstand für alle eben nicht selbstverständlich ist. Er muss stets neu erarbeitet werden, bevor über Verteilung nachgedacht werden kann. Eine Möglichkeit, Wohlstand zu generieren, ist zweifellos Produktivitätssteigerung. Aber auch eine (wieder) moderate Staatsverschuldung gehört dazu, in Verbindung mit einer überlegten Steuer- und Sozialpolitik, die sozial Schwächeren hilft und gleichzeitig das Prinzip der Eigenverantwortung verpflichtend in den Mittelpunkt stellt. Das gilt sicher auch für die nächsten zehn Jahre, in denen uns die wirtschaftlichen Folgen von Corona begleiten werden.

Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, Econ-Verlag, Berlin 2020

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